Ehe für alle: Wenn die Kulturexegese unser Bibelverständnis treibt

Passendes Buch:

Hier klicken

Heute entscheiden die Abgeordneten des Kirchenbundes über die Ehe für alle in den evangelisch-reformierten Landeskirchen der Schweiz (ref.ch vom 4.11.19). Über 200 Pfarrer haben eine Erklärung dagegen unterschrieben (Tages-Anzeiger vom 4.11.19).

Ich gehe in diesem Beitrag nicht auf die aktuelle kirchenpolitische Debatte ein. Mein Standpunkt: Es wird vollzogen, was die Political Correctness schon lange einforderte. Eine bekenntnisfreie Kirche (ist sie wirklich noch Kirche?) zieht “endlich” nach. Sie setzt um, was die säkularistische Leitreligion gebietet (in diesem Beispiel stelle ich einige ihrer Dogmen heraus).

Vor kurzem wurde eine  anschauliche Debatte über den wirklichen Knackpunkt geführt. Die Vorentscheidung fällt über der Frage, welchen Stellenwert wir der Heiligen Schrift zumessen. Ein Diskussionsteilnehmer formulierte es so: «Die Frage entscheidet sich letztlich beim Schriftverständnis. Wenn man hier gemeinsam ein Stück weiterkommen will, muss die Diskussion über Bibelzugang und Hermeneutik geführt werden.»

Wenn sich die Schrift nicht selbst auslegt

Genau darum geht es. Welcher Bibelzugang liegt einer bestimmten Position zugrunde? Der Autor des Beitrags schreibt: «Ist Gottes Wort ein sich selbst auslegendes, abgeschlossenes und begrenztes Offenbarungsdokument? … Ist Gottes Wort ein Text, den ich exegetisch analysieren kann, bis er aufgeht?» Zwei prinzipielle Fragen werden hier aufgeworfen.

  • Legt die Bibel sich selbst aus? Wenn diese Frage mit «Nein» beantwortet wird, dann folgt daraus, dass eine aussen stehende Instanz die Rolle des Auslegers übernommen hat.
  • Ist diese Auslegung eine historisch-normative oder eine offene? Wenn der Kanon unabgeschlossen bleibt, entscheidet der aktuelle gesellschaftliche Konsens bzw. eine Expertengruppe (mit der entsprechenden Macht) über die korrekte Deutung.

Wenn eigene Werturteile und Erfahrungen den Umgang mit der Bibel bestimmen

Wie sieht die Alternative aus? «Oder ist die Bibel der Hallraum, innerhalb dessen Christinnen und Christen in allen Zeiten, Kulturen und Gesellschaften Gottes Wort hören und Christus nachfolgen. … Ist die Offenbarung abgeschlossen? Oder geht sie – erstaunlich geduldig – mit uns und denen die noch kommen werden weiter? Oder ist Gottes Wort, die Stimme, Gewissheit und der Zweifel, der zu mir durch diese Texte hindurch spricht?»

  • Was hallt? Menschen tragen ihre inneren Voreinstellungen und Erfahrungen an den biblischen Text heran. In der (subjektiven) Begegnung hallt zurück, wonach sie suchen. Er ist eine Art «Steinbruch», aus dem man sich herausholt, was man will.
  • Wie oft betreten Menschen diesen Hallraum? Wenn wir Dutzende Stunden Aufenthalt in der Online-Welt einigen wenigen Minuten Bibel-Hallraum gegenüberstellen, ist entschieden, was stärker hallt.

Wenn wir zum Beurteiler des Bibeltexts werden

«Die Pattsituation besteht nicht zwischen liberaler und biblizistisch-fundamentalistischer Theologie. Global haben letztere gewonnen, in Westeuropa nicht. (Es geht um die Frage) … wie normative Aussagen Richtigkeit und Gültigkeit erhalten. Da gibt es doch mehr als historisch-kritische Methode oder Biblizismus! Historisch-kritische Methode zeigt ja gerade in sich selbst, dass das mit der Normativität nicht direkt geht.»

  • Hier werden zwei Signalworte des Säkularismus verwendet. «Biblizismus» bezeichnet hier die Bindung an den biblischen Text. «Fundamentalismus» bezeichnet das Anerkennen einer externen Autorität (anstatt der korrekten Lesart einer gewaltsamen Durchsetzung des eigenen Anspruchs).
  • Der Autor anerkennt, dass diese Lesart nur für den Westen gilt. Tatsächlich befinden wir uns in einer «säkularen Glocke».
  • Es gebe noch mehr als die historisch-kritische Methode. Interessant ist, dass diese Methode damit vorausgesetzt wird. Weniger geht in keinem Fall.

Wenn uns die skeptische Grundhaltung selbst verschlingt

Wie sieht die gelebte Hermeneutik aus? «Mein Vorschlag: Theologische Sätze gelten – vorläufig – innerhalb kirchlicher Gemeinschaften, in denen Menschen sich in ihrem Glauben an Gott mit ihren Interpretationen dahinter stellen. Ich meine nicht Konsens! Ich meine damit das Wirken des Heiligen Geistes in der Gemeinde als Bewährungsraum für Wahrheit.»

  • Die skeptische Grundposition steht absolut. Die Gemeinschaften (hier plötzlich das Kollektiv) diktiert diese Ungewissheit.
  • Das nicht zu hinterfragende Hauptdogma lautet: Es gibt nur vorläufige Interpretationen,
  • Das Mehr kommt durch eine Art «solus spiritus» zustande. Der Heilige Geist wirkt auch ausserhalb der Schrift.

Wenn Liebe gegen Buchstabentreue ausgespielt wird

In den sozialen Medien las ich diese Art von Beweisführung: «Wir haben deswegen nicht einfach aufgehört, auf Gottes Wort zu hören. Wir lesen die Bibel, ringen um ihr Verständnis, beten und denken nach und kommen zu einem (immer vorläufigen weil menschlichen, aber in Freiheit und Verantwortung gefällten) Urteil, dass die Liebe höher zu gewichten sei, als die Buchstabentreue, und dass nach Segen und Fürbitte suchenden Menschen solches nicht verwehrt werden solle. Wir hören auch Gottes Wort, wir hören andere Dinge, bzw. wir kommen zu andere Schlüssen.

  • Auch hier wird dem absoluten Werterelativismus gehuldigt.
  • Zudem wird Liebe gegen Buchstabentreue ausgespielt.

Wenn Christus von der Schrift getrennt wird

«Richtig ist: Die Kirche steht unter dem Wort Gottes. Nicht der Text, sondern Jesus Christus ist dieses eine Wort. Und es ist nicht in Aussagesätzen zu haben, sondern ereignet sich als ‚viva vox‘, lebendiges, belebendes und befreiendes Wort. Wo der Geist des Herrn weht, da ist Freiheit! Diese Freiheit ist anspruchsvoll: „Was ihr bindet auf Erden, soll gebunden sein im Himmel, was ihr lösen werdet auf Erden, soll auch im Himmel los sein.“ (Mat 18.18) In der Kirche hat niemand etwas mit absolutem Anspruch zu vertreten. Kirche hofft und betet in der Wahrheit zu sein. Sie hat sie nicht. Sie ist sie nicht. Sie hofft auf sie. Sie ringt um Wahrheit.»

  • Hier wird zwischen Aussagesätzen und Jesus Christus getrennt.
  • In der Kirche hat niemand etwas mit absolutem Anspruch zu vertreten.

Wenn der Heilige Geist vom Wort losgelöst wird

«Ich selbst verstehe die Schrift als ein Medium, über das Gott zu den Menschen spricht. Er spricht zu Menschen, die das Wort berührt, anregt und inspiriert. Gemeinsam bilden diese Menschen Kirche. Und in der Kirche soll im Vertrauen auf den Heiligen Geist darum gerungen werden, was gilt, was wahr ist. Immer in der Hoffnung auf den Geist und immer im Wissen darum, dass wir uns irren könnten. Das Wort ohne Geist ist zwar auch Bibel, aber heilige Schrift wird es erst durch das Wirken des Geistes in der Gemeinde.»

  • Die Bibel ist eine Stimme (Medium) unter anderen.
  • Der Heilige Geist wirkt die vorläufige Erkenntnis in der Gemeinde.

Entgegnung

Ich zitiere einen weiteren Gesprächspartner mit einem anderen Vorverständnis.

«Jeder Ansatz – auch deiner – hat historisch-normative Wurzeln.» Richtig, jeder Gesprächspartner hat Vorentscheidungen darüber gefällt wie (theologische) Wahrheit erkannt wird.

«Wenn alles wirklich nur Lernprozesse sind, könnte auch dein heute angeblich richtiger Ansatz ein baldiges Ablaufdatum haben. Bald kann jemand kommen, und alles, was du heute für wichtig und richtig haltest, über Bord werfen.» Meistens werfen Menschen in einer nächsten Lebensphase selbst das über Bord, worauf sie sich einmal beriefen. Der Mensch, der auf sich selbst geworfen wird, ist eine unbeständige, sich selbst aufhebende Grundlage.

«Die Tradition ist nicht der ‚Herrgott selbst‘, aber deswegen keinesfalls von der Hand zu weisen.» Sowohl die Über- wie auch die Unterbewertung der Tradition hat gefährliche Auswirkungen. In der aktuellen Verachtung der Tradition steckt meines Erachtens ein Dogma des Naturalismus: Fortschritt ist an sich zu begrüssen. Es fehlt jedoch das Kriterium, um die Bewegung zu messen.

«Zu deiner Aussage: Die Kirche steht unter der Schrift, und Christus ist diese Schrift. Stimmt natürlich! Nur woher kennen wir Christus? Durch den Text der Bibel. Es ist kein beliebiger Christus, sondern der EINE historische Christus. Es sollte auch in deinem Interesse sein, dies anzuerkennen, denn sonst wird auch dein Christus Opfer der Beliebigkeit. Erst durch eine Verbindung mit dem Text der Bibel wird es möglich, mit einander zu diskutieren und herauszufinden, WELCHEN Christus wir meinen und damit auch aktuelle Aussagen an DIESEM Christus zu messen.»

«Auch deine Aussagen kommen in (propositionalen) Aussage-Sätzen daher. Damit müssen wir uns wohl alle abfinden: Aussage-Sätze (und damit auch Bekenntnisse) SIND Teil unser aller Geschichte. Schließlich funktioniert Sprache und Verständigung unter anderem so.»

Äusseres Zeugnis (Gott offenbart sich in der Schrift) verbindet sich mit dem inneren Zeugnis des Heiligen Geistes. «Die Erfahrung, der erlebte Glaube kommt selbstverständlich oben drauf.»

Fazit

Wir heben uns selbst auf!  «Was ich sagen will: die von dir gewünschte Loslösung von Geschichte, Tradition, Bekenntnis, Aussage-Sätzen demontiert eben gerade das, was du einbringen willst. Deinem Beitrag fehlt damit die begründbare Basis, welche dein Anliegen über die Zeit tragen könnte.»

«Mein Christentum ist vorläufig, meine Theologie ein (ziemlich unorigineller) menschlicher Antwortversuch und meine Grundannahmen werden verifiziert oder falsifiziert werden. Wenn wir (beide) schon nur das einräumen, haben wir kein Problem: Über beidem steht Christus.» Das tönt sehr demütig. Nein, mit einer solchen Aussage stellen wir uns über Christus, der sich an sein Wort bindet!

Die Bibelvergessenheit der Evangelikalen, gekoppelt an eine Bindung an die eigenen Gefühle, macht diese Bewegung offen für gesellschaftliche Entwicklungen. Die Verachtung der Tradition lässt sie zudem blind sein für vergangene Schauplätze des Ringens.

Zum Vertiefen: