Friedrich Julius Stahl (1802-1861) hat haarscharf das gewandelte Freiheitsverständnis des säkularisierten Europas erfasst (in Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche).
Was ist Freiheit? Diese Frage stellt der Genius unserer Zeit, und gleich der Sphinx erwürgt er die Generationen, die sie falsch beantworten. Freiheit ist nicht, so oder anders handeln zu können in grundlos zufälliger Entscheidung; Freiheit ist, nach seinem innersten Selbst zu leben und zu handeln. Nun ist das innerste Selbst des Menschen allerdings Individualität, die kein Mass und Gesetz von aussen empfangen kann, und danach ist das Recht der Individualität, d. i. eine unabhängige Privatsphäre und eine Beteiligung an den Anordnungen der öffentlichen Gewalt, ein wesentliches Moment vollständiger politischer Freiheit.
Wie ist aber das innere Selbst konstituiert? Hier geht die christliche Weltanschauung von einer anderen Denkvoraussetzung aus.
Aber das innerste Selbst des Menschen ist nicht bloss seine Individualität, sondern auch sein sittliches Wesen, und nach diesem ist er der sittlichen Welt und ihrem Urheber gebunden und eins mit ihnen, und es ist nicht Freiheit, sondern Unfreiheit, wenn er gegen das eigene sittliche oder gegen die sittliche Gestalt des Gemeinwesens handeln kann.
Der Vergleich mit dem Bräutigam ist anschaulich.
Die Freiheit, nach der das menschliche Gemüt sich sehnt, ist zugleich Friede, ist Befriedigung. Ich frage, wer ist freier, der glückliche Bräutigam oder derjenige, der, wie man sagt, noch ein freies Herz hat? Jener, obwohl gebunden, ist dennoch der freiere, weil in seinem innersten Selbst befriedigtere. Die höchste Befriedigung aber ist es, einer Kirche anzugehören von beseligendem Glauben und einem Staate von Macht und Ehre nach aussen und erhabenen Einrichtungen und sittlich schöner Lebensordnung im Innern. Der Mensch, der einer solchen Kirche, einem solchen Staat, die sein ganzes Gemüt ausfüllen, angehört, wenn sie ihn auch gegebenen Autoritäten unterwerfen und durch strenge Gesetze beschränken, ist er dennoch freier als derjenige, der in einer blossen Sicherheitsgesellschaft, was der neue Staat sein soll, tun darf, was ihm beliebt und Niemandem gehorcht, als den er mitwählt.
Stahl zu einem anderen hochaktuellen Thema: Über wahre christliche Toleranz