Zitat der Woche: Glück und die Natur der Sattheit

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Solschenizyn befand sich 1948 in einer Haftanstalt für Wissenschaftler mit erleichterten Haftbedingungen (Scharaschka). Daraus entstand sein Werk, angelehnt an Dante mit dem Titel «Der erste Kreis der Hölle» benannt. Solschenizyn bildete darin lange Dialoge über den Sinn des Lebens ab. Er selbst war in diesen Jahren auf der Suche. Dies ist ein Dialog aus dem 5. Kapitel, welche die Glücksvorstellung der Konsumgesellschaft auf den Kopf stellt:

»Wenn ich früher — in der Freiheit — in Büchern las, was kluge Menschen über den Sinn des Lebens oder darüber, was das Glück sei, dachten, so verstand ich diese Stellen schlecht. Ich gestand ihnen zu: kluge Menschen sind zum Denken verpflichtet, aber was ist der Sinn des Lebens. Wir leben und darin liegt der Sinn. Das Glück? Wenn es uns sehr, sehr gut geht, so ist dies Glück. Das weiß jeder. Manchmal denke ich, das Gefängnis sei doch nicht das Schlechteste; immerhin gibt es mir Gelegenheit nachzudenken. Um die Natur des Glücks zu verstehen, erlaube mir, zuerst die Natur der Sattheit aufzuzeigen. Denk an die Lubjanka oder die Gegenspionage. Denk an die dünne, wässerige Hafer- oder Gerstengrütze ohne ein einziges Tröpfchen Fett! Kannst du sagen, dass du sie isst, dass du sie trinkst oder verspeist? Mit heiligem Zittern wirst du ihrer teilhaftig, du empfängst sie wie das Abendmahl. Wie die Yogis das Prana empfangen. Du ißt sie langsam, du ißt sie mit der Spitze des hölzernen Löffels, du ißt sie ganz versunken in den Prozeß des Essens, in das Denken über das Essen, und der Fraß verteilt sich in deinem ganzen Leib wie Nektar, du erzitterst von der Süßigkeit, die sich dir in diesen zerkochten Körnchen und der trüben Nässe auftut, in der sie herumschwimmen. So lebst du sechs Monate, vielleicht zwölf, und hast im Grunde nichts gegessen. — Kannst du damit das grobe Verschlingen von Koteletts vergleichen?«

… »So haben wir an uns selbst und an dem Unglück unserer Kameraden die Natur der Sattheit erkannt. Die Sattheit hängt nicht im geringsten davon ab, wieviel wir essen, sondern davon, wie wir essen. So ist es auch mit dem dem Glück, Lewuschka, es hängt überhaupt nicht von dem Umfang der äußeren Segnungen ab, die wir dem Leben entrissen haben, es hängt nur von unserer Beziehung zu ihnen ab! Darüber heißt es in der taoistischen Ethik: es versteht, sich zufrieden zu geben, der wird immer zufrieden sein.« … Das Glück immerwährender Siege, das Glück triumphal erfüllter Wünsche, das Glück des Erfolges und vollständiger Sättigung, das ist seelisch-geistiger Tod, das ist eine Art nicht endenwollender moralischer Qual! Nicht die Philosophen der Wedanta oder der Sankhya, sondern ich, ich persönlich, Gleb Nershin, der sich das fünfte Jahr im Joch befindet, erklomm diese Entwicklungsstufe, wo man schon beginnt, das Schlechte auch als Gutes anzusehen, und ich bin der Meinung, daß die Menschen selbst nicht wissen, was sie erstreben. Sie suchen im leeren Raum herum nach einer Handvoll irdischer Güter und sterben, ohne ihren eigenen seelischen Reichtum erkannt zu haben. (Ausgabe Fischer von 1968, S. 45-48)