Corona in Perspektive (1): Unter der Oberfläche rumort die grosse Lebensangst

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Die drastischen Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie in der Schweiz (hier geht es zu einem hilfreichen überblickenden Artikel) brachten mich ins Nachdenken. Als Theologe, der seit Jahren im Gesundheitswesen arbeitet, bin ich der Überzeugung, dass es höchste Zeit ist, uns in unserer Ohnmacht sich der grossen westlichen Tradition und Geschichte wieder zuzuwenden. Os Guinness, Religionssoziologe und Kulturkritiker, nennt dies “Schnittblumen-Zivilisation” – eine Kultur, die sich von ihren eigenen Wurzeln gelöst hat.

“Unter der Oberfläche rumort die grosse Lebensangst.” Besser könnte man das aktuelle Geschehen aus biblischer Weltsicht nicht fassen. Überhaupt gewinnt das Buch über das Leid von Timothy Keller in der gegenwärtigen Situation nochmals an Bedeutung. Der Autor meint: «Das Hinauszögern unseres Todes ist eine unserer Lieblingsbeschäftigungen.» Jahrzehntelang als Pastor in New York tätig gewesen, fasst er seine eigenen Erfahrungen zusammen:

Der Verlust lieber Menschen, Krankheiten, die unser Leben einschränken und irgendwann tödlich enden, Menschen, die uns enttäuschen, finanzielle Verluste und moralische Niederlagen – all dies werden Sie früher oder später erleben, wenn Sie ein normales Lebensalter erreichen. Keiner ist dagegen gefeit. Egal, wie gut wir vorbeugen, egal, wie gut wir unser Leben gestalten, egal, was wir alles anstellen, um reich, gesund, beruflich erfolgreich und in Freundschaft und Familie glücklich zu sein – irgendwann kommt etwas, das unser schönes Leben beschädigt, ja ruiniert. Mit noch so viel Geld, Macht und Planung können wir es nicht verhindern, dass Tod, Krankheit, zerbrochene Beziehungen, finanzielle Katastrophen und hundert andere Übel über uns hereinbrechen. Das menschliche Leben ist furchtbar zerbrechlich, ausgeliefert an Kräfte, die zu stark für uns sind. Das Leben ist tragisch. Intuitiv wissen wir dies alle, und die unter uns, die sich mit Leiden und Schmerz auseinandersetzen müssen, lernen nur zu bald, dass dies allein aus ihrer Kraft nicht möglich ist. Wollen wir nicht verzweifeln, brauchen wir alle Hilfe.

Gleichzeitig bekennt Keller ehrlich, dass am Anfang seiner Ehe keiner von beiden auch nur das Elend eines eingewachsenen Fussnagels kannte. Dies entspricht der Situation mancher Europäer und gerade von uns Schweizern. Für das Buch hat er das überaus treffende Bild eines «Schmelzofens» verwendet:

Es ist extrem heiß und gefährlich, aber richtig benutzt, zerstört es den Gegenstand, den wir in es hineinlegen, nicht, sondern formt ihn, läutert und verfeinert ihn, ja macht ihn schöner. Dies ist eine bemerkenswerte Sicht vom Leiden: Im Glauben getragen, kann es uns am Ende nur besser und stärker machen, uns mehr Größe und Freude geben. Leid kann den Spieß des Bösen gleichsam umdrehen; es kann seine teuflischen Pläne vereiteln und aus Finsternis und Tod Licht und Leben kommen lassen.

Wie schade, wenn selbst Christen keinen Zugriff mehr auf den überaus reichen Fundus zu diesem Thema aufweisen und sich angesichts des Schmelzofens einer der drei falschen Strategien verschreiben: Weglaufen (Flucht), “Augen zu und durch” (Verdrängung) oder “alles über sich ergehen lassen” (Verzweiflung).

Fortsetzung folgt