Kolumne: Fernunterricht und Familien zu Hause

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In den letzten Tagen war ich vermehrt in den sozialen Netzwerken aktiv. Wer die neusten Meldungen verfolgen will, folge mir auf Facebook und Twitter. Hier sind drei überblickende Meldungen in meinem typischen “Bullet-Stil”:

Erste Gedanken vom 17.3. Warum Distance Learning nicht einfach funktioniert

Als fünffacher Vater mit mehr als einem Jahrzehnt Erfahrung in Homeschooling behaupte ich: Schulen können nicht einfach auf Distance Learning umstellen. Warum?

1. Verinnerlicht ist: Zu Hause = Freizeit = nichts tun.
2. Die meisten Eltern begleiten ihre Kinder charakterlich nicht, sondern beschränken sich auf die Funktion als Versorgungsstation.
3. Die Schulen kauen den Stoff in kleinsten Happen vor. Selbständigkeit ist trotz anderslautenden Parolen nicht gefragt.
4. Selbständiges Lernen wird fast ausschliesslich in Gruppen gepflegt. Höchstens einer arbeitet, die anderen blödeln. Tiefstmögliche Effizienz ist antrainiert.
5. Die Umstellung von Lerngewohnheiten bei Wechsel des Lernorts dauert aus meiner Erfahrung mindestens ein Jahr.
6. Und der wichtigste Grund: Die wahren Lehrer der Kinder sind die Online-Interaktionen. Diese werden jetzt nochmals gewaltig ansteigen.

Fazit: Ich halte diese “Mit den neuen Lernformen wird alles besser”-Parole für eine klassische Pädagogen-Utopie. Methoden und Lernformen haben bestensfalls unterstützende, niemals konstitutive Funktion.

Und noch konstruktiv meine Hinweise als fünffacher Vater mit > 10 Jahren Homeschooling-Erfahrung:

1. Eine machbare Tagesstruktur ist das A und O.
2. Jedes Kind erhält einen Lernplan mit Aufgaben zum Abhaken.
3. Mit kurzen Einheiten beginnen, Zeitdauer langsam steigern.
4. Zuerst die anspruchsvollen Tätigkeiten, erst dann die Zückerchen.
5. Grundfertigkeiten einüben, da gibt es auch online viel Brauchbares.
6. Kopfrechnen und Vorlesen sind zwei Disziplinen, die Eltern gut übernehmen können.
7. Tätigkeiten variieren (fachlich und in der Art der Tätigkeit), wenn möglich mit Instrument-Üben und Fitness-Einheiten unterbrechen
8. Der Anfang ist entscheidend. Dies gilt für die gesamte Zeit, aber auch für den Tag und die einzelnen Lernzeiten

Notiz vom 18.3. Alltag mit Konfliktpotenzial

Auf engerem Raum zusammen sein über Wochen? Potenzial für Konflikte. Dies sind meine Überlegungen als Vater einer Grossfamilie:

  • Tages-/Nachtrhythmus nicht beliebig verschieben; das reduziert die Produktivität und strapaziert das Nervenkostüm.
  • Gemeinsames Frühstück und (Zwischen-)Mahlzeiten pflegen; diese als Gelegenheit für den «Zwischenrapport» nützen
  • Jedes Familienmitglied verfügt über einen realistischen Tagesplan (schriftlich).
  • Gemeinsame Zeiten zum Aufräumen/Putzen definieren (z. B. 10 oder 20 Minuten).
  • Regelmässig Rechenschaft über Fortschritte einverlangen. (Ich tue das ganz nebenbei; ich lasse mir Arbeitsresultate zeigen.)
  • Rhythmisieren, das heisst Abwechslung schaffen. Unser Ältester führt z. B. eine Fitnesslektion durch.
  • Vor Mittag und vor dem Abendessen sind potenzielle «Stresshöhepunkte». Ich schaue, dass ich dann Streithähne räumlich trenne.
  • Pflegt gute Gewohnheiten, z. B. erzählen aus früheren Zeiten, einander vorlesen (Vorlesebücher), zusammen singen oder Musik anhören – und natürlich beten.
  • Unterstützt ältere und kranke Menschen (Anrufe, Briefe, Einkäufe). Kaum etwas ist ätzender, als nur mit sich selbst beschäftigt zu sein.
  • Führt ein Lerntagebuch. Das kann online oder noch besser mit Papier und Tinte geschehen.
  • Ordert Bücher oder nehmt diejenigen hervor, die ihr schon lange lesen wolltet. Aus meiner langjährigen Vielleser-Erfahrung kann ich nur raten: Realistische Tagesziele setzen, mit kleinen Einheiten beginnen.

Notiz vom 19.3. Unterrichtsalltag

Der erste Tag ist ja noch aufregend, der zweite auch noch. Und dann beginnt (niemand will es öffentlich sagen) der Kampf.

Er steht später auf.
Bett nicht gemacht.
Arbeitsmaterial nicht am Platz.
Mehr Unordnung und Dreck.

Er beginnt mit Mathe, 10 Minuten.
Dann versteht er es nicht mehr.
Legt es frustriert weg.
Die Eltern wollen es ihm auf ihrem Weg zeigen.

Er: “Der Lehrer hat es nicht so gezeigt.”
Zwischenhalt.
Es beginnt mit der Heiligung der Eltern.
Gebet.

Innerliche Sammlung.
Ringen mit dem Ärger.
“Wie hast du es gelernt? Zeig es mir.
Was verstehst du? Was nicht?
Hol mir den Lehrerkommentar.
Lies diese Seiten genau durch.”

Update vom 25.3. Erstes Fazit nach 10 Tagen

1. Die ersten Tage mögen durch die Abwechslung aufregend gewesen sein.
2. Ich höre immer wieder von überforderten Eltern. Die neue Zeit wirft sie plötzlich wieder auf ihre eigentliche Verantwortung zurück; die Tendenz zur weitgehenden Delegation von Betreuung und Bildung fällt nun plötzlich ins Gewicht.
3. Durch Kontakte zu Lernenden aus dem asiatischen Raum werde ich in der Vermutung bestärkt, dass wir Europäer äusserst träge geworden sind.
4. Der bequemste Ausweg ist das 24 h-Angebot zum Zocken; die Beruhigung wenigstens in der Vorstellung statt in der reellen Welt etwas zu bewirken, zieht.
5. Manche Erwachsene sitzen jetzt zwar zu Hause, jedoch mit dem Stress der plötzlichen Nähe zu den Nächsten und der Existenzangst im Nacken.
6. Umdenken geschieht nicht in einigen Tagen; die Enkulturation des «autonomen Konsumenten» sitzt tief. Die zahlreichen Online-Angebote halten die Illusion aufrecht.
7. Nach einigen Tagen verschiebt sich der Tages-/Nachtrhythmus; es fällt vielen schwer aus dem Bett zu kommen.
8. Schutzbehauptungen nach aussen sollen davon ablenken, dass die Effektivität deutlich gesunken ist.

Meine Empfehlungen:

1. Lest Bücher, lasst euch nicht nur durch bewegte Bilder berieseln. So wird die eigene Imagination gestärkt; zudem ist die definitorische Aussagekraft von (Lehr-)Büchern viel höher als die auf die Bewegung der Emotionen zielenden Bilder.
2. Natürlich gibt es zahlreiche Dokumentationen und Lernvideos; diese sehe ich als wirkungsvolle Ergänzung an. Noch davor rangieren für mich Hörbucher.
3. Behaltet den Tage-/Nachtrhythmus bei. Die markante Verschiebung führt verstärkt zur Unzufriedenheit und zur (depressiven) Verstimmung.
4. Verteilt Aufgaben zu Hause. Haltet Ausschau nach dem schwächsten Beteiligten, an dem tendenziell die ganze Arbeit hängen bleibt.
5. Schreibt handgeschriebene Briefe. Auch eine Mail an betagte Personen oder ein Telefonanruf kann grosse Freude bewirken. Isolation schadet.
6. Ich bin kein Sportler; doch die Bewegung (erhöhter Puls) und Kraftübungen (für die Muskulatur) stärken die eigene Vitalität und bauen Stress ab.
7. Ein befreundeter Unternehmer entwirft Szenarien für die Krisenzeit und danach. Führe Tagebuch über neue Ideen, die aus der Verlegenheit oder auch aus kreativen Momenten heraus entstehen.
8. Beginnt den Tag mit den unangenehmsten Aufgaben. Legt für euch selbst und gemeinsam Rechenschaft über Erreichtes ab – wenn möglich visuell.