Zitat der Woche: Die Subjektivität lässt alle Gehalte verdampfen

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Rohrmoser in seiner unnachahmlichen Art:

Die Religionsapologeten bis zu Eugen Drewermann haben zwar subtilere psychologische Theorien zur Verfügung, denn sie haben inzwischen Sigmund Freud und andere tiefenpsychologische Theorien zur Kenntnis genommen und sie bedienen sich ihrer nicht in kritisch destruktiver Absicht, sondern um dem Menschen in seinem Religiös-sein wieder ein stabiles Verhältnis zu sich selbst und der Welt zu ermöglichen. Man kann mit diesem Erklärungsapparat überdies alles, was einem an der Religion unverständlich geworden ist, in einer psychologisch zugänglichen Weise interpretieren. Dann bezeichnet man bestimmte Dogmen wie die Jungfrauengeburt oder die Auferstehung nicht mehr als Unsinn. Man erklärt, sie folgten der Logik von Mythen oder von Märchen. Damit lässt sich aus diesen Gegenständen ein Sinn herausdestillieren, zu dem sich der moderne Mensch in ein Verhältnis setzen kann, was ihm von therapeutischem Nutzen sein mag.

Doch der Theologe, der so verfährt, ist damit selbst eine Art Religionsschöpfer. Drewermanns therapeutische Hilfe besteht darin, dass er dem, was der einzelne will (etwa in Gewissenskonflikten, oder weil er an bestimmte Dogmen nicht mehr glauben kann oder mit seinem Ehepartner nicht mehr zusammenleben will), einen religiösen Sinn hinzufügt. Die Welt ist heute geradezu süchtig nach religiösen Virtuosen und Gurus dieser Art. Nachdem die Theologen selber unsicher geworden sind, welchen Sinn die Gehalte haben, die sie weiter tradieren sollen, stehen sie diesen Religionsvirtuosen völlig hilflos gegenüber. Man muss sich nüchtern darüber im Klaren sein, dass, solange wir die Anthropologie als Grundaxiom ansehen, dieser Zustand nicht zu ändern sein wird, denn dies bedeutet im Kern, dass dem religiösen Empfinden, Glauben, Wähnen Imaginieren keine Objektivität entspricht. Dieser Vielfraß, die Subjektivität, lässt alle Gehalte verdampfen.

Günter Rohrmoser. Glaube und Vernunft am Aufgang der Moderne. Eos, 2009. S. 436f.