Meine dritte Nietzsche-Interpretation nach Rohrmoser (die ich insgesamt für schlüssig halte, siehe diese Podcasterie) und der meisterhaften Darstellung durch Safranski hörte ich in der Form von Vorlesungen der verheirateten Nietzsche-Spezialisten Kathleen M. Higgins (* 1954) und Robert C. Salomon (1942-2007).
In der zweiten Vorlesung wenden sich die beiden einigen Nietzsche-Klischees zu – dies aus einer gemässigt-begeistert-zustimmenden Optik.
A. Nietzsche war verrückt.
- Nietzsche war in den letzten zwölf Jahren seines Lebens psychisch krank.
- Seine Schriften stützen die Spekulation nicht, dass er bereits während seiner Schaffensperiode in Wahn verfallen war.
B. Nietzsche hatte Syphilis.
- In der Anstalt in Jena wurde 1889 Syphilis diagnostiziert.
- Das Interesse am Ursprung dieser Krankheit wird enttäuscht durch Nietzsches Diskretion über sein Sexualleben.
C. Nietzsche hatte kein Sexualleben.
- In jüngster Zeit wurde vermutet, dass Nietzsche schwul war, wozu
- einige Hinweise existieren.
- Nietzsche schweigt sich über sein Sexualleben aus.
D. Nietzsche war frauenfeindlich.
- Er wuchs in einem Haushalt von Frauen auf.
- Er war sich des Einflusses von Familienbeziehungen (insbesondere seinem Verhältnis zu seiner Mutter) bewusst.
- Nietzsche lehnte die Ziele der zeitgenössischen feministischen Bewegung ab.
- Nietzsche wandte sich gegen das Ideal eines uni-sex, one-size-fits-all Geschlechts.
E. Nietzsche war den Christen feindlich gesinnt.
- Nietzsche missbilligte einige Dinge am Christentum, insbesondere das, was Kierkegaard “Christentum” nennt, der christliche Mob.
- Nietzsche bewunderte außergewöhnliche Christen (darunter Jesus), die wirklich das lebten, woran sie behaupteten zu glauben.
- Er wandte sich gegen die heuchlerischen und selbstgerechten Haltungen, mit der einige Christen ihre bürgerlich-religiösen Überzeugungen vertraten.
F. Nietzsche war judenfeindlich.
- Nietzsche hat diesen Ruf, weil er sich manchmal in wenig schmeichelhafter Weise über sie äusserte – wie er es mit allen anderen auch tat – und weil Wagner ein Antisemit war.
- Er analysierte das Christentum als eine Sekte des Judentums.
- Nietzsches Kritik am Judentum ist ein Aspekt seiner Kritik am Christentum.
G. Nietzsche war ein Nazi.
- Die Partei wurde erst 1919 gegründet, also fast zwanzig Jahre nach Nietzsches Tod.
- Seine Schwester Elisabeth heiratete einen Protofaschisten und begründete damit seinen (Nietzsches) Ruf.
- Nietzsche war weitgehend unpolitisch; es kam ihm gar nicht in den Sinn den deutschen Staat bewundern.
H. Nietzsche war machtbesessen.
- Sein Konzept des “Willens zur Macht” hat viele glauben lassen, er begrüße militärische Eroberung.
- Meistens verwendet Nietzsche den Begriff jedoch psychologisch.
- Macht motivierte viele menschliche Aktivitäten nebst Krieg und Eroberung, zum Beispiel in der Kunst.
I. Nietzsche favorisierte Krieg, Mord, Grausamkeit.
- Nietzsche diente (im deutsch-französischen Krieg 1870/71) als Ordonnanz, nicht als Soldat. Er war nicht für Krieg (aber auch kein Pazifist).
- Er sah Grausamkeit bei sich selbst wie in jedem Menschen und war ehrlich (und besorgt) darüber.
J. Nietzsche bewunderte die Barbaren.
- Nietzsche bewunderte die alten Athener, von denen man hätte sagen können, sie seien “Barbaren”.
- Er ermutigte jedoch nie zu Muskelkraft ohne Hirn.
K. Nietzsche verteidigte die Eugenik.
- Das taten auch die meisten anderen Intellektuellen seiner Zeit auch, z. B. George Bernard Shaw (meine Anmerkung: G. K. Chesterton lehnte sie strikte ab).
- Der Begriff “Eugenik” klingt für uns geschmacklos wegen der Experimente der Nazis (meine Anmerkung: Nein, sie ist grundsätzlich in einem nachchristlichen Naturalismus begründet).
L. Nietzsche schlägt den Übermensch als evolutionäres Ziel vor.
- Nietzsche stand Darwin ambivalent gegenüber.
- Er akzeptierte die Evolution und wies gerne auf das Tier in uns hin.
- Er glaubte nicht, dass der Fortschritt der (menschlichen) Spezies ihn sichert.
- Der Übermensch wird in Nietzsches Schriften selten erwähnt.
- Der Übermensch ist ein Ideal für die geistige Entwicklung – für die Bereitschaft, Risiken einzugehen, um etwas Großes zu schaffen, etwas über sich selbst hinaus.
M. Nietzsche war ein Nihilist.
- Nihilismus (der Begriff kommt aus Russland) ist die Ablehnung aller Werte.
- Nietzsche ist kein Nihilist, lehnt aber nihilistische Werte ab.
N. Nietzsche war ein Relativist.
- Er befürwortete den Relativismus in dem unschuldigen (Innocent) Sinne, dass Werte immer kontextbezogen, bezogen auf eine Zeit, ein Volk, einen Ort und besondere Umstände. (Anmerkung: Das sehe ich als Christ natürlich anders.)
- Er lehnte den Relativismus in dem vulgären Sinne ab, der darauf besteht, dass jede Ansicht ist genauso gültig (oder ungültig) wie jede andere.
O. Nietzsche verteidigte den Egoismus.
- Er lehnte die Unterscheidung zwischen “egoistisch” und “selbstlos” ab.
- Er fragte eher: “Wessen Ego?” Was egoistisch ist, hängt von der Person ab.
P. Nietzsche benutzte Täuschungen in der Argumentation, wie etwa ad hominem-Argumente.
- Das tat er in der Tat, einschließlich persönlicher Angriffe und unverhohlener Appelle an die Emotionen seiner Leser.
- Dennoch spielen diese “Trugschlüsse” eine wichtige Rolle in seiner Philosophie. Sie sind überhaupt keine echten Trugschlüsse.
Q. Nietzsche war ein schlechter Historiker.
- In Tat und Wahrheit kannte Nietzsche die Geschichte sehr gut. Er hatte eine solide Bildung, den Hintergrund als Philologe und eine Ausbildung in historischer Theologie genossen.
- Einige zeitgenössische Philosophen haben Nietzsche für ihre unverantwortlichen Darstellungen der Geschichte verantwortlich gemacht.
- Einige von Nietzsches Schilderungen sind zu einfach, wenn man sie für Geschichte hält. Nietzsche verwendete diese Erzählungen, um bestimmte (polemische) Punkte, insbesondere im Zusammenhang mit seiner am Christentum, anzubringen.
- Man könnte sie als Allegorien oder Parabeln betrachten, die gewöhnlich darauf abzielen uns dazu zu bringen, die Dinge anders zu sehen. Sie sind vereinfachend mit der Absicht, übliche Betrachtungsweisen umzukehren.