Ich bin Ron Kubsch dankbar, dass er die Diskussion über die Kurzversion von Ken Wilsons Dissertation aufgenommen hat. Diese Auseinandersetzung ist sehr anspruchsvoll, dies aus mehreren Gründen:
- Das Werk Augustins ist sehr verzweigt; es umfasst – obwohl ein Teil verloren gegangen ist – rund 5 Millionen Worte (zum Vergleich: Der Kernteil meiner Dissertation besteht aus rd. 70’000 Worten, Anmerkungen und Anhänge weitere 50’000 Worte). Wohl gemerkt: Augustins Werk wurde handschriftlich erstellt!
- Der jahrzehntelange Dienst von Augustinus unterlag enormen inhaltlichen Verschiebungen. Vor seiner Bekehrung fand er in neu-platonischen und manichäischen Zirkeln sein geistiges Zuhause. Wer die ersten Werke nach der Zeit seiner Bekehrung liest, merkt dem noch sehr viel an. Im Laufe seines Lebens und Dienstes war er jedoch bestrebt, seine Lehre an Gottes Wort auszurichten.
- Einige Themen, vor allem seine Lehre der Kirche inkl. der Tauffrage sowie zur Sexualethik, überlagern das Augustinusbild. Nach dem Studium von Primär- und Sekundärliteratur musste ich feststellen, dass a) auch hier eine Entwicklung vorliegt und b) einige Behauptungen schlichtweg nicht stimmen.
- Die Forschung zu Augustinus ist Jahrhunderte alt und so verzweigt wie kaum eine andere Forschung. Sowohl Katholiken wie Protestanten stehen auf den Schultern solcher Giganten. Leider sind Vorurteile gegen Kirchen- und Dogmengeschichte weit verbreitet. Das ist einerseits auf den Einfluss des Naturalismus (Fortschrittsdenken), aber auch auf die mangelnde Verwurzelung mit der eigenen Geschichte (Pragmatismus) zurückzuführen. Das erschwert sowohl Zugang zu wie Umgang mit solchen Fragestellungen.
- Es ist unstreitig, dass die Lehre der Gnade im Lauf von Augustins Leben markante Korrekturen erfuhr. Ich habe diese stichwortartig in einem Beitrag festgehalten. Es empfiehlt sich, die entsprechenden Abschnitte im Handbuch nachzuschlagen und zu lesen.
- Unsere kulturelle Konditionierung – die geistige Luft, die wir täglich einatmen – spricht undifferenziert von Freiheit und schliesst damit auch die ungehinderte Willens- und Wahlfreiheit ein. Wer hier gegen den Trend spricht und dem Menschen seine Wahlfreiheit bezüglich des Heils abspricht (wohlgemerkt auch nach Augustinus nicht für bürgerliche Tugenden und tägliche Entscheidungen, siehe dieser Beitrag), hat es doppelt schwer. Kürzlich habe ich mündlich einige biblische Argumente geliefert.
- Manche huldigen der These «je früher, desto echter». Ich meine dies besonders in der Lehre der Kirche («wie die Urchristen») und eben in der Lehre der Gnade zu bemerken. Ich gebe ohne Umschweife zu: Die Kirchenväter haben erst im 5. Jahrhundert in der Frage um den Menschen gerungen. Davor lag die Priorität auf der Gotteslehre und der Christologie. Egal aus welchem Jahrhundert jemand spricht: Letztlich muss jeder Standpunkt vor der Gesamtbotschaft der Heiligen Schrift überprüft werden.
Augstin-Kenner haben Gesamturteile getroffen. Hier greife ich einige Argumente aus dem Beitrag von Ron Kubsch heraus und füge weitere hinzu.
- Zur Prägung der ersten Jahrhunderte (Herman Bavinck): «In der frühen Kirche, zu einer Zeit, als sie mit heidnischem Fatalismus und gnostischem Naturalismus zu kämpfen hatte, konzentrierten sich ihre Vertreter ausschließlich auf die moralische Natur, Freiheit und Verantwortung des Menschen und konnten daher der Lehre der Schrift über den Ratschluss Gottes nicht gerecht werden. Obwohl die Menschen mehr oder weniger durch die Sünde korrumpiert worden waren, blieben sie frei und konnten die angebotene Gnade Gottes annehmen. Die Lehre der Kirche enthielt keine Lehre von umfassender Prädestination und unwiderstehlicher Gnade. Der Ratschluss Gottes bestand in Vorauswissen und der Festlegung von Belohnung oder Strafe, die von diesem Vorauswissen abhing.»
Noch deutlicher Adolph Zahn: «Im großen und ganzen ist die Theologie der Kirchenväter ein mit christlichen Fetzen geschmücktes Heidentum, aus dem sich durch Gottes Providenz dennoch die vielen großen Wahrheiten Augustins von Prädestination, Sünde und Gnade und die logisch wahren Bestimmungen über die beiden Naturen in Christus herausgerettet haben: brauchbare Grundsäulen für die Zukunft.» - Augustin benutzte in seiner Auseinandersetzung Väterzeugnisse (Michael Fiedrowicz): «Hatte Julian von Eclanum Augustinus der Erfindung der Erbsünde bezichtigt, so hielt ihm der Bischof von Hippo (c. Jul. 1,5–35; c. Jul. imp. 1,52) die Autorität acht abendländischer Väter (Irenäus, Cyprian, Reticius, Olympius, Hilarius, Ambrosius, Innozenz I., Hieronymus) und mehrerer Vertreter der griechischen Kirche (Basilius, Gregor von Nazianz, Johannes Chrysostomus) entgegen.»
- Augustins Lehre stand der Denkweise der Antike entgegen (Helmut Flasch): «Augustin hatte seit 397 eine neue Interpretation des Christentums vorgelegt. Sie war unvereinbar mit dem Welt- und dem Vernunftbegriff der antiken Philosophie, von dem er herkam… Die neue Gnadentheorie … reduzierte den Anspruch der Vernunft; sie ruinierte mit Berufung auf Paulus das frühere, vernunftfreundliche Bild von Gott und menschlicher Selbstbestimmung. … Der fromme Laie Pelagius … hatte ein anderes Konzept von Christentum, und zwar aus monastisch-asketischen Motiven. Denn wenn die Gnade allein entschied, verlor die ethisch-religiöse Aufgabe der Selbstgestaltung ihren Sinn.»
- Augustin rang um biblische Argumente, und dies in einer mehr als ein Jahrzehnt dauernden Auseinandersetzung. Ich fordere besondere Männer, die in Lehr- und Verkündigungsdienst stehen, zu einer gründlichen Prüfung auf. Lasst euch nicht einfach von einem Sekundärwerk vereinnahmen. Zur Prüfung empfehle ich die auf deutsch übersetzten Texte der Pelagianischen (Bd. 1, Bd. 2, Bd. 3, Bd. 6) und Semipelagianischen Schriften Augustins. Diese müssen in einer grösseren Bibliothek besorgt werden. In meinem Studium von 2011 notierte ich mir systematische und exegetische Argumente. Daraus entstanden auch einige Blogeinträge:
- Auch den Bösen viel Gutes gewährt
- Über den Stellenwert des Willens
- Unser Wille und der Heilige Geist
- Die Gnade nimmt dem Willen nicht die Freiheit
- Der Sünde verfallen
- Die eigene Person zur Quelle des Lebens machen
- Wer die Ursprungssünde leugnet, tastet das Grundgefüge des Glaubens an
Zur Einführung Augustins empfehle ich
- Die geniale Augustinus-Biografie von Brown, die mehrere tausend Zitate und Bezüge zu dessen Werk enthält (meine ausführliche Rezension)
- Das vom Vatikan herausgegebene, Beiträge von Theologen aus aller Welt enthaltende Augustinus-Lexikon «Augustine through the Ages»
- Die gut lesbare Einführung «Augustine on the Christian Life» von Gerald Bray