Zitat der Woche: Sich selbst und dem eigenen Gott treu bleiben?

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Goethes Verhältnis zum Christentum ist eindeutig zweideutig. Bei seiner erneuten Begegnung mit Lavater 1779 «gab Goethe zu erkennen, dass ihm mehr an der Person des Freundes lag als an dessen Glaubenswelt.» Safranski (in Goethe: Kunstwerk des Lebens, 275f) beschrieb diese Glaubenswelt so: «Lavater war wirklich gläubig, er hielt mit Innigkeit am Wort Gottes fest, von den Büchern des Alten Testaments bis zum Neuen Testament. Für ihn galt das im buchstäblichen Sinne. Die Bibel war für ihn das offenbarte Wort Gottes, und das besass lebensverbindliche Kraft.»

Wie war das im Gegenzug für Goethe? Safranski weiter: «Für Goethe aber war es Poesie und allenfalls Zeugnis inspirierter Weisheit.» Wenn er gegenüber Lavater von Gott spricht meint er damit 

eine Schicksalsmacht, bei der er fühlt, dass sie ihn gnädig lenkt. Goethe redet von Gott so, wie einst Sokrates von seinen Daimonion gesprochen hat. Diese Schicksalsmacht ist etwas, das jeder für sich erfahren kann, sie bleibt dem anderen verborgen, wenn auch die Wirkung der lebensgestaltenden Macht solcher inneren Gewissheit von anderen durchaus bemerkt werden kann. Diesen Gott oder diese persönliche Schicksalsmacht kann man keinem anderen predigend, mahnend, werbend ans Herz legen oder gar aufnötigen. Jeder muss seinen eigenen Gott spüren und finden, was nichts anderes bedeutet, als den roten Faden des eigenen Lebens zu ergreifen. Man kann sich für die Gewissheit, von einem eigenen Daimonion geführt zu werden, auch nicht auf irgendwelche vorgeblich heiligen Texte berufen. Allerdings lasse sich aus solchen Erfahrungen innerlicher Lenkung Inspirationen gewinnen, die in eigene Texte einfliessen können. Der Bibelgläubige glaubt an eine Heilsgeschichte im Ganzen, Goethe aber glaubt nur an seine persönliche Heilsgeschichte, die ihm unter der Voraussetzung möglich erscheint, dass er … sich selbst und damit seinem persönlichen Gott treu bleibt.

Ich bin beeindruckt von der Wortgewalt und der vielfältigen Begabung Goethes. Gleichzeitig bemerke ich den grossen Abstand durch diese Verlagerung des Seins-Mittelpunktes ins eigene Sein. Der Geniekult und die Aufgeblasenheit sind mir zuwider – und gleichzeitig Warnschild. Ich kann die Darstellung Safranskis sehr empfehlen.