Wir befinden uns im grauen November mitten in einer Zeit weiterer Einschränkungen aufgrund des Virus. Während die einen unvermindert von zu Hause aus weiter arbeiten können, trifft es andere wirtschaftlich hart (zum Beispiel den für eine Schweizer Tradition stehenden Zirkus Knie).
Triage bei Engpässen
Da ich selber in und für Spitäler arbeite, nehme ich regen Anteil und verfolge beispielsweise den Stand der Bettenbelegung in der Schweiz. Mit Spannung lese ich die Richtlinien für die Triage bei Engpässen auf der Intensivstation. Dort ist zu lesen:
Das Alter, eine Behinderung oder Demenz per se sind keine Kriterien, die zur Anwendung gelangen dürfen. Sie messen älteren oder behinderten Menschen weniger Wert bei und verletzen daher das verfassungsrechtlich verankerte Diskriminierungsverbot.
Es wird auf die Clinical Frailty Scale verwiesen. Bezüglich Kommunikation wird der Grundsatz der Transparenz aufgestellt:
Wird die Intensivpflege aufgrund einer Triage-Situation nicht angeboten oder nicht mehr fortgeführt, so muss darüber transparent kommuniziert werden. Es ist unzulässig, gegenüber dem Patienten den Behandlungsentscheid mit fehlender Indikation zu begründen, wenn bei genügenden Ressourcen anders entschieden worden wäre. Der urteilsfähige Patient oder die vertretungsberechtigten Angehörigen des urteilsunfähigen Patienten (Art. 378 ZGB) sind über den Entscheidungsprozess offen zu informieren und wenn möglich sollte ein Angebot an weiteren Gesprächen (Spitalseelsorge o.ä.) erfolgen.
Sündenbekenntnis und Fürbitte
Parallel dazu finden wir in der Kirchengeschichte einen reichen Schatz zum Umgang in schwierigen Zeiten. Dazu gehört vornehmlich das Sündenbekenntnis und die Bitte um Barmherzigkeit, wie es Heinrich Bullinger 1571 in einem Jahr mit Pest, Unwetter und Teuerung festhält:
Deshalb erscheinen wir jetzt in Demut und Einfalt unseres Herzens vor dir, o Herr, und bekennen vor dir all unsere Sünden, die wir gegen dich vielfältig begangen haben und um derentwillen wir jetzt bestraft werden. Aber wir rufen dich an, wie du uns befohlen hast, und bitten dich von Herzen, in deinem gerechten Zorn, der dich gegen uns ergriffen hat, gnädig nachzulassen und dich unser zu erbarmen. Denn wir achten in unserem Gebet nicht auf unsere eigene Rechtschaffenheit, weil wir ja arme Sünder sind, sondern allein auf deine grosse Barmherzigkeit und deine Verheissung und insbesondere auf deinen geliebten Sohn, unseren Herrn und einzigen Vermittler und Erlöser Jesus Christus. Durch ihn bitten wir dich, dass du uns zu dir umkehren lässt und du in väterlichen Gnade wieder zu uns umkehrst (vgl. Sacharja 1,3) und uns von Teuerung, Hunger, allem Unwetter, Krieg, Krankheit und bösen Bedrohungen befreist, auf dass wir Lob und Dank sagen und dir weiterhin als unserem lieben Gott und Vater dienen und so die Seligkeit in Jesus Christus, unserem Herrn, erlangen. Amen.
Ob man vor dem Sterben fliehe möge
In der Schweizerischen Ärztezeitung wird auf eine Schrift Luthers von 1527 Bezug genommen. Luther differenziert in diesem Traktat an seinen Kollegen bezüglich der Frage, ob man in einer solchen Zeit fliehen oder bleiben soll:
Das erste, wenn es gegen Gottes Wort und Befehl geschieht, z.B. nämlich, wo jemand um Gottes Wortes willen gefangen wäre und Gottes Wort verleugnete oder widerriefe, auf dass er dem Tode entliefe. In solchem Fall hat jedermann einen öffentlichen Befehl und Gebot von Christus, dass er nicht fliehen sondern lieber sterben…
Ebenso sind die, welche im geistlichen Amt sind, wie Prediger und Seelsorger, auch schuldig, in Sterbens- und Todesnöten zu stehen und zu bleiben. …
Demnach sind auch alle die, welche in weltlichen Ämtern sind, wie Bürgermeister und Richter und dergleichen, schuldig zu bleiben.
Wenn unser gefordertes Lebenskonzept zusammenbricht
Für die allermeisten – mich eingeschlossen – geht es um die erneute Gelegenheit das unbewusste Lebenskonzept auf den Prüfstand zu stellen. Ein gewichtiger Leitsatz des Westens “Leid vermeiden” kommt empfindlich ins Wanken:
- Gutes Leben heisst mich ungestört meinen Plänen widmen zu können.
- Leid stört.
- Ich vermeide Leidvolles.
Hier habe ich vier weitere Denkmuster zusammengefasst. Ein eindrückliches Beispiel ist die Reaktion des kanadischen Bloggers Tim Challies, der vor wenigen Tagen seinen einzigen Sohn verlor. Er schreibt:
Yesterday Aileen and I cried and cried until we could cry no more, until there were no tears left to cry. Then, later in the evening, we looked each other in the eye and said, “We can do this.” We don’t want to do this, but we can do this—this sorrow, this grief, this devastation—because we know we don’t have to do it in our own strength. We can do it like Christians, like a son and daughter of the Father who knows what it is to lose a Son.
Ich empfehle mit Nachdruck Timothy Kellers Buch “Gott im Leid begegnen”.
Zum Weiterlesen
Während der ersten Corona-Welle habe ich mich in verschiedenen Beiträgen bereits mit der gesellschaftlichen Wirkung der Pandemie auseinandergesetzt: