Gastbeitrag: Anschwellender Bullshit

Passendes Buch:

Hier klicken

Eine absichtlich tendenziöse Medienkritik von Lars Reeh

Provokanter Titel (ich weiß); jedoch verbirgt sich dahinter ein hochrelevantes Konzept, welches von einem Philosophen formuliert wurde, dessen Nachname synonym mit der Geburtsstadt Goethes ist.[1] Die Essenz des Bullshits ist nicht die Lüge, sondern eine unbekümmerte Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit UND der Lüge – “this indifference to how things really are.”[2] Ich unterscheide in dieser Medienkritik zwischen Inhalt und Form und werde beide im Kontext der Postmoderne beleuchten.

Inhalt: Bullshit!

Um es kurz zu machen: In der Postmoderne wird nicht mehr an Wahrheit geglaubt.

Die Ideengeschichte der Wahrheit ist die Erzählung eines Verlustes. In der Vormoderne glaubte man im Westen an Gott, Wahrheit und Absolute. In der Moderne wurde Gott dann durch die Vernunft ersetzt, wobei an (moralischen) Absoluten vorerst festgehalten wurde. Das Konzept der Wahrheit war in dieser Phase bereits beschädigt, da in der Abkehr von der Offenbarung die Vernunft vom Mittel der Erkenntnis zur Erkenntnisquelle verdreht wurde, wobei der Objektivitätsanspruch bestehen blieb (z.B. Kants „kategorischer Imperativ“). In der Postmoderne wurde der Überrest an Absolutheitsansprüchen aufgegeben.[3]

Geblieben ist nichts. Diese Entwicklung führte zum Nihilismus und schließlich zum Bullshit.[4] Laut dem linguistic turn konstruiert Sprache Realität. Dieser Post-Truth-Diskurs ist mittlerweile eine übliche Form der politischen Kommunikation, was eindrucksvoll durch Donald Trump belegt wurde.[5] „Postfaktisch“ war immerhin das Wort des Jahres 2016; Politik wird im Wesentlichen durch Emotionen vermittelt; die Wahrheit hat ausgedient.

Form: The Medium is the Message!

Die Form, also die Art und Weise der Vermittlung, hat in sich selbst bereits eine Botschaft – und zwar unabhängig von dem jeweiligen Inhalt der Übertragung: Das ist die Ideologie der Form! Der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan schrieb bereits 1964:

Denn der „Inhalt“ eines Mediums, ist wie ein saftiges Stück Fleisch, dass ein Einbrecher benutzt, um den Wachhund unseres Verstandes abzulenken.“[6]

Das Bilderverbot in der Bibel (2. Mose 20,4) impliziert einen ethischen Zusammenhang zwischen Formen menschlicher Kommunikation und der Qualität einer Kultur.[7]

Bildmedien (Internet, TV, Kino) sind geprägt von Schnelligkeit und Diskontinuität; die Flüchtigkeit der Eindrücke wechselt sich ab mit einem Ansturm an Zerstreuung.[8] „Es herrscht der Drill des Vorübergehenden, gegen den keine Instanz der Erde sich noch auflehnen kann. Dieser wird im Wesentlichen mit “Schnitten” ermöglicht; (…).“[9] Die durchschnittliche Einstellungslänge bei Spielfilmen (die Zeit von einem Schnitt bis zum Nächsten) lag im Jahr 1980 bei 10 Sekunden, 2003 bei 6 Sekunden[10] und 2010 schließlich bei 2.5 Sekunden.[11] Im Jahre 2014 lag die durchschnittliche Länge eines Online-Videos bei 4 Minuten und 40 Sekunden.[12] Die menschliche Aufmerksamkeitsspanne ist vom Jahr 2000 bis zum Jahr 2015 von 12 Sekunden auf 8 Sekunden gesunken und liegt damit unter der Aufmerksamkeitsspanne eines Goldfisches.[13] Unsere Gehirne sind plastisch und werden durch die Medien geformt.[14] Deswegen heißen Formen ja auch Formen, weil sie uns eben formen. Diese digitale Demenz[15]führt zu intellektueller Rastlosigkeit („kognitives Nomadentum“).[16] Der weit verbreitete Gebrauch des Smartphone beschleunigt diese Entwicklung.[17] Medien sind epistemologisch; sie vermitteln einen Zugang zum Sein.[18]

Wer immer noch meint, es käme ausschließlich darauf an, wie man mit Medien umgeht, hat  Wesentliches verkannt und ist, laut Marshall McLuhan, ein „technologischer Idiot“.[19]

Praxis: Bildersturm?

Welche Handlungsempfehlung folgt aus dieser Analyse? 

Trotz des McLuhan’schen Vorwurfs der technologischen Idiotie könnte der kritische Konsum dennoch eine Konsequenz sein. Man konsumiert z.B. Serien und hinterfragt deren Weltanschauung. Eine weitere Möglichkeit wäre der Gebrauch in “homöopathischen Dosen” – die Reduktion der bewegten Bilder auf ein absolutes Minimum (z.B. für berufliche Zwecke).[20] Da wir uns allerdings in dem Übergang in eine Bildkultur befinden (wobei Medien also solche – ich wiederhole – nicht neutral sind), und die bewegten Bilder unsere Aufnahmefähigkeit für das Wort Gottes möglicherweise empfindlich stören, bleibt noch eine letzte Option: der Bildersturm 2.0.


[1] Frankfurt

[2] On Bullshit. The Importance of What We Care About. (Cambridge: Cambridge University Press, 1988) S. 4. Harry G. Frankfurt.

[3] vgl. Ron Kubsch. Die Postmoderne: Abschied von der Eindeutigkeit (2007)

[4] On Bullshit. The Importance of What We Care About. (Cambridge: Cambridge University Press, 1988) S. 4. Harry G. Frankfurt.

[5] siehe die Darstellung von Donald Trump in der Dokumentation HyperNormalisation (2016) von Adam Curtis https://www.youtube.com/watch?v=kwglZTNhMNE (18.01.2021)

[6] Understanding Media: The Extensions of Man (1964). S. 17. Marshall McLuhan. Eigene Übersetzung. Original: „For the “content” of a medium is like the juicy piece of meat carried by the burglar to distract the watchdog of the mind.“

[7] Amusing Ourselves to Death: Public Discourse in the Age of Show Buisiness (1985). S. 9. Neil Postman.

[8] Das Fernsehen bedroht die Demokratie. Von Albrecht Müller. 16.12.1985. DER SPIEGEL 51/1985. https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13516144.html (28.01.2021)

[9] Botho Strauss. Anschwellender Bocksgesang, Der Spiegel 6/1993. https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13681004.html (28.01.2021)

[10] https://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=4064 (28.01.2021)

[11] https://www.wired.com/2014/09/cinema-is-evolving/ (28.01.2021)

[12] https://www.comscore.com/Insights/Press-Releases/2014/2/comScore-Releases-January-2014-US-Online-Video-Rankings(28.01.2021)

[13] https://time.com/3858309/attention-spans-goldfish/ (28.01.2021)

[14] Is Google Making Us Stupid? What the Internet is doing to our brains. The Atlantic (2008). Nicholas Carr. https://www.theatlantic.com/magazine/archive/2008/07/is-google-making-us-stupid/306868/ (28.01.2021)

[15] vgl. Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen. Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer. (2012)

[16] vgl. Das Babylon Gefühl der digitalen Nomaden (2014). Lars Reeh. https://www.josia.org/2014/08/das-babylon-gefuehl-der-digitalen-nomaden/ (28.01.2021).

[17] https://www.josia.org/2019/06/buchrezension-wie-dein-smartphone-dich-veraendert-tony-reinke/ (28.01.2021)

[18] Amusing Ourselves to Death: Public Discourse in the Age of Show Buisiness (1985). S. 17. Neil Postman.

[19] Understanding Media: The Extensions of Man (1964). S. 17. Marshall McLuhan.

[20] Diese beiden Optionen schließen sich gegenseitig nicht aus. Wichtig zur Differenzierung ist noch, dass z.B. Predigten online, ganz ohne bewegte Bilder, angehört werden können, was ein immenser Segen ist  („Der Glaube kommt aus der Verkündigung“- Rom. 10,17).