Ob Klima, Tierschutz und jetzt Covid: Die Diskussionen scheinen in eingespielten Bahnen zu verlaufen. Wie war das eben? Die Ethik ist dem Einzelnen überlassen. Doch der Bumerangeffekt ist eingetreten. Die Netiquette der neuen Moral zieht sich einem unsichtbaren Netz gleich immer enger um die Errungenschaft der Meinungsäusserung. Alexander Grau schreibt in “Hypermoral” (Claudius: München, 2017):
(E)rstmals in der abendländischen Kulturgeschichte ist Moral heutzutage nicht länger Ausdruck eines übergeordneten und normierenden Wertesystems wie etwa der Tradition oder einer Religion. Der moderne moralische Diskurs kreist vielmehr ausschließlich um sich selbst. Moral wird selbstbegründend. Als moralisch gilt das, was aufgrund moralischer Erwägungen als moralisch gilt. Das ist nicht nur zirkulär, sondern zugleich autoritär. Moral bekommt eine meinungsbildende Monopolstellung. Alle anderen rationalen Erwägungen werden diskreditiert.
Die Aufklärung frisst ihre eigenen Kinder. Der Mensch wollte selbst bestimmt sein. Wenn alle Meinungen nebeneinander stehen, wird das Kriterium dessen, was sich durchsetzt, zum Machtspiel. Anscheinend hat eine kleine Medienelite den Sieg davongetragen.
(I)st es nicht ein Fortschritt, wenn moralische Fragen nicht auf Grundlage irgendwelcher Traditionen oder bestehender Ressentiments diskutiert werden, sondern auf Basis einer im besten Fall universalen ethischen Vernunft? Handelt es sich dabei letztlich nicht um einen Triumph der Aufklärung, einen Sieg der vernunftorientierten Argumentation über Vorurteile und willkürlich gesetzte Normen?
Was sich nicht auf der Linie der politischen Korrektheit bewegt, kann nur noch im Zustand der Erregung diskutiert werden.
Massenmedial geprägte Demokratien modernen Zuschnitts können Sachfragen kaum anders kommunizieren als im Modus der Erregung und Empörung.
… (Die Moralisten leben) in dem Bewusstsein …, das Gute an sich zu vertreten, (deshalb) sind etwaige Kritiker zum verbalen Abschuss frei gegeben und werden, je nach Thema und Ausgangslage, als neoliberal, kapitalistisch, militaristisch, sexistisch oder zumindest als verantwortungslos gebrandmarkt.
Theologisch gesprochen geht es um die Installation neuer kollektiver Götter, denen gehuldigt werden muss. Also nichts mit moralischem Vakuum – es muss über kurz oder lang gefüllt werden.
(E)s gibt nur noch Hell oder Dunkel, das Reich des Lichtes oder das der Schatten und den unbedingten Glauben an den heilsgeschichtlichen Sieg des Guten. Wer sich der herrschenden Moral und ihrer aufgeblasenen Selbstgewissheit verweigert, hat nicht einfach nur eine andere Meinung, er wird zum Häretiker.