Kolumne: Ich muss mir von mir selbst nicht alles gefallen lassen

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Diese Aussage stammt von Viktor F. Frankl (1905-1997). Ich empfehle Trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (1946),  Der Mensch auf der Suche nach dem Sinn: Auswahl aus dem Gesamtwerk, dann auch seine Habilitation in Philosophie Der unbewusste Gott: Psychotherapie und Religion (1948) sowie sein bereits vor der Lagerhaft geschriebenes und in der Endphase der Haft skizzenhaftes rekonstruiertes Ärztliche Seelsorge. Jahre nach der Lektüre bin ich im Viktor Frankl Museum in Wien erneut an dieser Aussage hängen geblieben.

1945 im Lager Türckheim auf unter 40 kg abgemagert und vom Fleckfieber befallen, behielt Frankl den Freiraum seiner Reaktion im Auge. Der Mensch ist kein Opfer seiner Umstände, sondern in der Lage zu sich selbst, seinen Trieben und Prägungen Stellung zu nehmen.

Ein interessanter Kontrast – oder vielleicht besser – eine Aktualisierung erlebte ich am selben Tag bei einer (empfehlenswerten) Führung auf dem Heldenplatz in Wien im Volksgarten. Der Historiker, der uns umherführte, meinte: «Es gibt in dieser Stadt viele Denkmäler für bekannte und doch unwichtige Persönlichkeiten.» Selbst zählte er Elisabeth von Österreich (Sisi; 1837-1898) dazu, der vor allem durch die Verfilmung 1955/56 in einer (Wieder-)Findungsphase Österreichs nach dem 2. Weltkrieg in einer kitschigen Version unsterblichen Ruhm zuteil wurde. Der Führer begründete seine Aussage mit den Worten: «Sie war vor allem auf sich selbst fixiert.»

Frankl beschreibt Freiheit und Verantwortung als zwei Seiten derselben Münze. Der Mensch ist Angefragter und gibt ständig Antwort auf die Fragen des Lebens. Sein Gewissen als höchste personale Instanz hielt Frankl selber davon ab, seine betagten jüdischen Eltern in Wien zurückzulassen und in die USA auszureisen. Eindrücklich dazu ist sein Rückblick in seiner Rede anlässlich des 50. Jahrestages des Einmarschs von Hitler (1988)  «Es gibt keine Kollektivschuld» (13 Minuten)

Das Wahrnehmen der generationsübergreifenden Verantwortung ist in einer ich-fixierten Zeit nötiger denn je. Daher rührt die Resonanz auf die Aussage Frankls. Kann ich sie als Christ bejahen? Als begnadigter Sünder lebe ich durch die Kraft des neuen Lebens. Meine Identität steht in Christus (Galater 2,20; Philipper 3,9). Das alte Leben und die absolute Wirkmacht der Sünde sind zwar gebrochen, jedoch noch nicht aus unserem Leben gebannt. Wir können ihr noch immer Raum geben. Paulus beschreibt dieses Spannungsfeld in Römer 6 und 7. 

Echte Hingabe transzendiert sich selbst. Davon war Frankl überzeugt – und ich auch: Es ist letztlich ein vom Christentum geborgter Gedanke. Erst in der Hingabe zum DU – wobei ich als Christ damit zuerst den persönlich-unendlichen Gott damit meine – erfahre ich «Freude in Fülle» (Psalm 16,11). Der autonome (eigengesetzliche) Konsument vereinsamt und geht des Lebenssinns verlustig. Der momentanen Befriedigung nachzujagen würde Frankl als Betäubung Betäubung im Gefolge seines Sinnvakuums bezeichnen. Wie schade, wenn wir Christen aus reiner Anpassung dieselbe Strasse einschlagen!

Zum Einstieg zu Frankl empfehle ich die Dokumentation «Trotzdem Ja zum Leben sagen» (45 Minuten) sowie den Vortrag  «Die Sinnfrage in der technologischen Gesellschaft» (45 Minuten).