In mehreren Vorträgen und Beiträgen (hier und hier) habe ich bereits auf das monumentale Werk «Herrschaft» hingewiesen. Die flüssige Verbindung der Hauptthese mit einer geschickt gewählten Auswahl an Ereignissen macht es zu einer informativen wie fordernden Lektüre. Im letzten Kapitel «Woke», das von Merkel und MeToo, Charlie Hebdo ebenso wie Victor Orban handelt, schreibt Holland:
War es nicht an der Zeit, dass der Islam erwachsen wurde und in der modernen Welt ankam, so wie es das Christentum ja auch geschafft hatte? Allerdings setzte man mit solchen Fragen natürlich die dem Säkularismus ureigene Arroganz voraus: dass alle Religionen im Prinzip gleich waren. Man unterstellte, alle Religionen seien – ähnlich wie Schmetterlinge – einem identischen Lebenszyklus unterworfen: Reformation, Aufklärung, Abstieg. … Jetzt, im Zeitalter von Charlie Hébdo, hatte Europa neue Erwartungen, neue Identitäten, neue Ideale. Doch nichts davon war neutral; nichts war irgendetwas anderes als eine Frucht christlicher Geschichte. Anderes anzunehmen – anzunehmen, die Werte des Säkularismus seien tatsächlich überzeitlich -, war ironischerweise der sicherste Belegt dafür, wie zutiefst christlich sie in Wirklichkeit waren.
Holland beschliesst das Buch mit der Beschreibung seiner Patentante Deborah, die er in sehr guter Erinnerung hält.
Sie war ein engagiertes und frommes Mitglied der Church of England und nahm ihre Pflichten als meine Patentante äusserst ernst. Bei meiner Taufe hatte sie gelobt, darauf zu achten, dass ich im christlichen Glauben und Lebenswandel erzogen werde, und sie gab sich alle Mühe, ihr Wort zu halten. Nie erlaubte sie mir zu vergessen, dass Ostern sehr viel mehr bedeutete als nur Schokoladeneier, mit denen sie mich alljährlich reichlich versorgte. … Vor allem aber war sie für mich mit ihrer unerschütterlichen Liebenswürdigkeit ein Vorbild dafür, was für einen engagierten Christen die tägliche Ausübung seines Glaubens tatsächlich bedeutet. … Ich habe in diesem Buch viel über Kirchen geschrieben, über Klöster und über Universitäten, doch nicht an solchen Stätten wurde die Masse des Christenvolks am meisten geprägt. In den allermeisten Fällen geschah es zu Hause, dass Kinder mit den revolutionären Lehren vertraut gemacht wurden, die im Lauf von zweitausend Jahren allmählich für so selbstverständlich gehalten wurden, dass man meinen konnte, sie entsprächen eigentlich der Natur des Menschen. Die Revolution des Christentums wurde vor allem auf dem Schoss der Frauen bewirkt.
Der Erfolg des einflussreichsten Bezugssystems, dem Leben des Menschen Sinn zu verleihen, das es je gab, hing also immer von Menschen wie meiner Patentante ab: Menschen, die in der Abfolge von einer Generation nach der anderen mehr sahen als einfach nur den Gang alles Irdischen. Sie hatte zwar keine eigenen Kinder, doch sie war eine Lehrerin, Leiterin einer hochgelobten Schule… Als Christin glaubte sie aber auch noch an etwas viel Grösseres. Für die Römer war ein saeculum die Grenze lebendiger Erinnerung gewesen: eine kurze, flüchtige Zeitspanne. Ein Baby kann vielleicht noch von seinen Urgrosseltern geherzt werden; letztlich aber muss Asche zu Asche und Staub zu Staub zurückkehren. Ohne eine Dimension des Himmlischen sind alle Dinge vergänglich. Das wusste meine Patentante.