Begriffsstudie: “Lehre” im neu digitalisierten ThWNT

Heutige Begriffswelt

Lehre ist «out». Verstaubtes Kopfkissen, das nur von einigen bleichen, schlaksigen Köpfen begehrt wird. Und ja, der Lehre haftet etwas Streberhaftes, etwas Oberlehrerhaftes an. Lockere Sprüche, lebendig vorgetragene Anekdoten, die richtige Kleidung und eine passende mediale Verpackung scheinen viel mehr zu zählen. Diesen Eindruck werde ich nicht los, wenn ich freikirchliche Gottesdienste besuche. Keine langen Hintergrundinformationen und schon gar keine geschichtlichen Details sind gefragt, sondern einige handfeste Tipps. Ich soll aufgerichtet und beglückwünscht werden.

Lehre und Leben unterscheiden ohne sie zu trennen

Ich habe mich bereits verschiedentlich mit dem Begriff auseinandergesetzt. Die biblische Lehre zielt auf das Leben, wie diese Predigt von Rudolf Tissen zur Lehre der letzten Dinge anhand von 2. Petrus 3 wunderschön aufzeigt. Systematisch hat dies Timothy Keller in seinem Buch zum Gebet bezeugt. Er schreibt: “Wir müssen uns nicht zwischen einem geistlichen Leben der Wahrheit und der rechten Lehre und einem der Kraft des Heiligen Geistes entscheiden.” Lehre und Leben sind voneinander zu unterscheiden, jedoch nicht zu trennen – wie Luther dies so treffend formuliert. Sie sind keine reinen Aussagen in Sinn von Objekten, sondern Ansprache an uns. Sie weisen uns auf den Dreieinen Gott hin. David Wells hat die Verbindung zwischen Glauben und Lehre von den NT-Briefen her belegt.

Wortstudie ist keine Konzeptstudie

Das Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament von Kittel ist von der Plattform Logos digitalisiert worden. Dem vor der linguistischen Wende der 1960er-Jahre entstandenen Werk kann der Vorwurf gemacht werden, entlang einzelner Begriffe ein komplettes Konzept zu entwickeln anstatt das gesamte Wortfeld zu berücksichtigen. Für “Lehre” würde sich beispielsweise die gesamte Bandbreite der Verkündigung, wie sie von Lukas in der Apostelgeschichte beschrieben wird, anbieten. Nichts desto Trotz: Mich interessiert, wie das ThWNT den Begriff “Lehre” ausleuchtet. Bezieht er sich auf Kopfwissen? Auf schwierig zugängliche Inhalte?

Struktur der Erläuterung

Ich suche den griechischen Begriff für «lehren», «διδάσκω» über die Artikelliste.  Das Wort wird zuerst in seiner Verwendung ausserhalb des NT sowohl in der griechischen Klassik als auch in der Septuaginta erläutert. Danach wird der Gebrauch im NT – abgeleitet von dem damaligen Stand der historisch-kritischen Forschung – bei den Synoptikern, in den johanneischen Schriften und der Urkirche bzw. bei Paulus untersucht.

Inhaltliche Fundstücke

Das Wort ist seit Homer (8. Jh. v. Chr.), dem frühesten Dichter des Abendlandes, bezeugt. Schon dort handelte es sich um eine «wiederholte Tätigkeit mit dem Ziele allmählicher, systematischer und darum um so gründlicherer Aneignung»

In der LXX (griechische Übersetzung des AT) wird es 100mal verwendet, davon 57mal als Übersetzung von למד. Dabei wird es nicht nur im religiösen, sondern auch im alltäglichen Gebrauch eingesetzt (in 2Kön 22,35 für den Gebrauch der Waffen, in Deut 31,19 für das Erlernen eines Liedes). Vor allem hat aber διδάσκειν als Objekt den Willen Gottes in seinen Äußerungen und Zielsetzungen (z. B. in Psalm 94,10 lehrt Gott den Menschen Erkenntnis).

Im rabbinischen Spätjudentum bezeichnete der Begriff „die Art, wie man durch die Auslegung des Gesetzes als der Zusammenfassung des geoffenbarten göttlichen Willens die Anleitung gibt zur Ordnung des Verhältnisses des einzelnen Menschen zu Gott selbst und zum Nächsten im Sinne des göttlichen Willens.“ Es gibt einen interessanten Hinweis auf den Lehrauftrag von Leviten durch den König Josaphat (vgl. 2Chr 17,7ff).

Im NT fallen von den etwa 95 Stellen, an denen διδάσκειν im NT vorkommt, etwa ⅔ auf die Evangelien und den ersten Teil der Apostelgeschichte.

„Nach dem einhelligen Zeugnis der Evangelien gehört das διδάσκειν zu den vornehmsten Funktionen, mit denen Jesus vor das Volk trat. … Als Ort des Lehrens erscheinen immer wieder die Synagogen (Mt 9, 35; 12, 9ff; 13, 54 par; Mk 1, 21; Lk 4, 15; Joh 18, 20 uo), an deren Stelle in Jerusalem der Tempel tritt (Mk 12, 35; Lk 21, 37; Mt 26, 55 par; vgl aber auch Joh 7, 14ff; 8, 20).“

Jesus verrichtete seinen Dienst in der Form des jüdischen Lehrers seiner Zeit. «Wir kennen Jesu Verhalten aus dem Bericht über sein Auftreten in der Synagoge von Nazareth (Lk 4, 16ff). Nach der Verlesung des Schriftabschnitts (Jes 61, 1f) im Stehen setzt sich Jesus, wie es die damaligen Schriftausleger zu tun pflegten26, und spricht im Sitzen im Anschluß an den verlesenen Text (Lk 4, 21ff).» „In Nazareth (Lk 4, 16ff) liegt ihm ein Wort des Jesaja zugrunde oder knüpft sein Lehren daran an. In anderen Fällen haben wir Auslegung der Tora (Mt 5, 21ff; 15, 3ff; 22, 37ff par; vgl auch 22, 23ff).“

Auch hier gilt die ethische Zielsetzung. „Jesu gesamte Lehre ist abgestellt auf die Ordnung des Lebens im Blick auf Gott wie auf den Nächsten (Mt 22, 37ff par; vgl 19, 16ff par). Darum enthält seine Lehre stets im Appell an den Willen den Ruf zur praktischen Entscheidung für oder gegen Gottes Willen.“ Der enge Bezug zum AT als dem Wort Gottes zeigt, „daß es ihm unmöglich ist, davon auch nur einen Buchstaben preiszugeben (Mt 5, 17f).“ Er lehrte mit der Autorität des Gottessohnes. „Eben darum tritt bei ihm neben und in der Auslegung der Schrift ein Lehren an den Tag, über das die Zuhörer in fassungslose Verwunderung geraten (Mt 7, 28; 13, 53 par).“

Das Lehren wird nach dem Weggang Jesu zum Auftrag an die Jünger. „Schon zu Lebzeiten Jesu und in seinem Auftrage haben seine Jünger angefangen zu „lehren“ (Mk 6, 30) und darin Jesu Anspruch auf das Volk zu ihrer eigenen Sache gemacht. Mt 28, 20 wird die Fortsetzung dieser Arbeit durch den Auferstandenen zur Lebensaufgabe der Seinen gemacht.“ Die Jünger lehren im Namen Jesu (Apg 4,18; 5,28) und verkündigen dessen Auferstehung (Apg 4,2; 5,42). Beim Lehren greifen sie ständig auf das Alte Testament zurück (vgl. Apg 18,25; 28,31). Es handelt sich also samt und sonders um „Heilsverkündigung auf Grund der Schrift und aus der Schrift“.

Paulus lehrte die Gemeinden (2 Thess 2, 15; Kol 2, 7; Eph 4, 21). In der Aufforderung von Röm 12,7 in der Gemeinde zu lehren, verstand er darunter „von der Schrift aus Anweisungen für die Lebensgestaltung gaben.“ Lehren steht direkt neben dem Ermahnen (Kol 1, 28; 3, 16), dies „als eine Funktion der Christen untereinander“. Mitarbeiter Timotheus wird dieser Dienst aufgetragen (1Tim 4,11; 6,2), verbunden mit dem Auftrag, eine nächste Generation zum selben Dienst auszurüsten (2Tim 2,2). 

Gelernt

Worin wurde ich bestätigt?

Die Lehre enthält stets Wissen, sie beschränkt sich in ihrer Wirkung jedoch nie auf den Wissensaufbau. Sie richtet sich an den gesamten Menschen und zielt auf seinen Willen. Es geht um das Ziel der „Bildung und Gestaltung nach dem Willen Gottes (vgl Mt 5, 48)“. Es geht also nicht um einen Gegensatz zwischen kognitiven und übrigen Aspekten, sondern gerade auch um die Einbindung des von Gott geschaffenen Verstandes!

Wie wurde mein Verständnis bereichert?

„Das Neue an diesem Wortgebrauch der Evangelien ist die radikale Überwindung des intellektuellen Moments an διδάσκειν, das für den außerbiblischen Sprachgebrauch charakteristisch ist.“ Das Ziel des Wissenserwerbs ist das gottgefällige Leben. „Überall, wo das Wort erscheint, hat es sein besonderes Kennzeichen darin, daß es sich nicht nur an die Einsicht, sondern auch und vor allem an den Willen wendet. Das διδάσκειν der LXX erhebt stets Anspruch auf den ganzen Menschen und nicht nur auf gewisse Seiten an ihm. Das wird am deutlichsten da, wo vom Lehren eines Willens und eines Weges gesprochen wird, der Gottes Willen und Weg entgegengesetzt ist.» Das bedeutet im Umkehrschluss, dass so etwas wie die Vergötzung der Kognition durchaus existiert. Dies wäre dann als Gegenpol zum rein emotivistisch verstandenen Appell, wie ich ihn eingangs erwähnte, zu verstehen.

Ein weiterer Aspekt war lehrreich: „Merkmal des Vorkommens von διδάσκειν Joh 8, 28; 14, 26; 1 Joh 2, 27 ist, daß das Wort zunächst den Eindruck macht, als solle es das Vorhandensein einer unmittelbaren Eingebung oder Offenbarung feststellen.“ Voraussetzung für das Lernen ist die göttliche Offenbarung, verfügbar bzw. verständlich gemacht durch den Heiligen Geist.

Fazit

Ziel der Lehre ist weder das Wohlbefinden noch eine rein kognitive Übung. Es geht um die Kenntnis von Gottes Willen, verbunden mit dem intensivierten Wunsch, diesen auszuüben. Die Freude ist demnach nicht Ziel, sondern Frucht des Lernens.

Hätte ich das Wörterbuch in Buchform konsultieren wollen, dann hätte ich die Theologische Fakultät aufsuchen müssen. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist angesichts meines Arbeitsaufkommens aktuell gering. Durch die online verfügbare Version konnte ich nicht nur die Schriftbeweise nachschlagen (was ich sonst auch nur eingeschränkt getan hätte). Ich markierte mir die merkenswerten Aspekte mit dem eigenen Farbsystem und kopierte einige für das weitere Studium in ein Worddokument. Ich kann den Erwerb des Wörterbuches empfehlen – auch angesichts der Tatsache, dass der von mir konsultierte Artikel aus dem Jahr 1935 stammt und zudem durch den Stand der historisch-kritischen Forschung von damals mit beeinflusst ist.

Rengstorf, K. H. (1935). διδάσκω. G. Kittel & G. Friedrich (Hrsg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament (Bd. 2, S. 138). Stuttgart; Berlin; Köln; Mainz: Verlag W. Kohlhammer.