Rezension: Eden Culture

Passendes Buch:

Hier klicken

Autor: Dr. Johannes Hartl 
Titel: Eden Culture. Ökologie des Herzens für ein neues Morgen.
Erscheinungsdatum: 14. September 2021; Verlag Herder; 304 Seiten
Rezensent: Lars Reeh

„Alles verströmt den Dunst des Verfalls.“ (Eden Culture, S. 210)

Einleitung

In der Einleitung zeigt Hartl auf, dass es, sowohl kulturgeschichtlich als auch in der persönlichen Erfahrung das Gefühl des Verlustes und der Sehnsucht nach einem besseren Leben gibt. Hartl lokalisiert diesen Sehnsuchtsort, auch im Rückgriff auf die biblische Urgeschichte, in der Metapher  des Gartens. Drei Elemente („Geheimnisse“) sind laut Hartl demnach konstituierend für diese Eden-Kultur: Verbundenheit, Sinnhaftigkeit und Schönheit.

Verbundenheit

Hartl zeigt die Bedeutung (frühkindlicher) Bindung, besonders die Wichtigkeit der leiblichen Mutter, und deren spätere Bedeutung für das Erwachsenenleben (längerfristige Beziehungsfähigkeit, beruflicher Erfolg, Kriminalität). Als Gegner der Verbundenheit identifiziert Hartl: Perfektionismus, Beschleunigung, Entfremdung und eine Abwertung des Leiblichen. Wege zurück in die Verbundenheit sind: Aussöhnung mit der eigenen (Familien-)Geschichte, Freundschaft mit sich selbst, kulturelle Tradierung, Naturliebe und Spiritualität.

Sinn

Hartl erörtert die Eigenschaften von Sinn. Besonderen Wert legt er darauf, dass Sinn über den Einzelnen hinausgeht – gehen muss. Daher wird Sinn nicht „gemacht“, sondern „entdeckt“. Besonders gut gefallen mir seine Erläuterungen zur Sprache.

Die Ausführungen zur Kultur der (digitalen) Ablenkung sind hoch relevant – und überführend!

Die Zusammenfassung der Philosophiegeschichte vom Nominalismus bis zu Nietzsche ist großartig gelungen. Hartl beschreibt die Dynamik der großen philosophischen Entbettung des Menschen und zieht die Linie folgerichtig bis zum aktuellen Phänomen des Transhumanismus.

Schönheit

Hartl beginnt folgerichtig über das zentrale Thema der Schönheit zu schreiben. Als Merkmale des Schönen nennt er: „Individualität, Großzügigkeit, Ordnung, Abwechslung, Wertschätzung, Harmonie und Liebe zum Detail.“ (S. 196) Der Autor zeigt auf, dass Menschen ästhetisch empfindende Wesen sind, für die Schönheit intuitiv eine hohe Bedeutung hat. Klassischerweise sei Schönheit verwandt mit dem Wahren und dem Guten; sie verweise, laut Thomas von Aquin, auf den göttlichen Ursprung. Angesichts mehrerer Bestimmungen, was das Wesen der Schönheit ausmacht, mutet es seltsam an, wenn Hartl schreibt: „Schönheit kann man nicht definieren.“ (S. 200+216)

Hartl identifiziert zwei große Brüche mit der Schönheit: Entweihungen und den Funktionalismus. Seine Erläuterung zu künstlerischen Entweihungen schließen sich nahtlos an seine philosophiegeschichtlichen Ausführungen im Sinn-Kapitel an und kumulieren meines Erachtens in dem von dem amerikanischen Soziologen Philip Rieff geprägten Begriff der Deathworks: „Während die Kunst aller früheren Zeiten an eine bestehende, sogar heilige Ordnung geglaubt habe, sei es ein besonderes Merkmal der Postmoderne, die Rebellion gegen jede Ordnung zum Selbstzweck zu erheben.“ (S. 207) Diese Entwicklung läuft auf den „Kult des Funktionalen“ hinaus. Hier gibt Hartl erhellende (kunst-) geschichtliche Einblicke zum Bauhaus-Stil und der Formel form follows function.

Bedeutend sind die Kritik an der Philosophie der Pornographie und das Lament über die Profanisierung der Erotik. Die ganzheitliche Konzeption von Sexualität wird der zerstörerischen Entwicklung positiv gegenüber gestellt. Demnach ist der Abschnitt über „Schöner Sex“ (S. 242 – 247) einer der Wichtigsten. Ebenso betont Hartl, die Wichtigkeit des Feierns: „Feste können etwas vom Geschmack Edens transportieren.“ (S. 250)

Name Dropping

Hartl bezieht sich auf viele verschiedene Studien und Denker. Zu diesen gehören unter anderem:

Elon Musk, Hartmut Rosa, Andreas Reckwitz, Sigmund Freund, Karl Marx, Roger Scruton, Martin Buber, Leo Tolstoi, Richard David Precht, Yuval Noah Harari, Ludwig Wittgenstein, Jean Paul Sartre, Viktor Frankl, Alexander Solschenyzin, Friedrich Nietzsche, C.G. Jung, Erich Fromm, Aristoteles, Thomas, Augustinus, Charles Taylor, Byung-Chul Han, Daniel Kahneman, Neil Postman und leider kein Jordan Peterson.

Stärken

Hartl kann gut schreiben und verwendet einen lebhaften, anschaulichen und verständlichen Stil.

Der interdisziplinäre Charakter des Buches mit vielen Bezügen zur Soziologie, Psychologie und Philosophie gefällt mir, wobei mich der Stil an Tim Keller erinnert. Stark ist Hartl darin komplexe Sachverhalte griffig zusammenzufassen. Dies wird insbesondere deutlich, wenn er Bindungslosigkeit als Folge der Industrialisierung beschreibt, den qualitativen Unterschied zwischen Mensch und Tier verdeutlicht und auf wenigen Seiten die westliche Philosophiegeschichte der letzten Jahrhunderte zusammenfasst. Der gesamte Text ist durchzogen von einer klaren, scharfsinnigen Analyse.

Schwächen

Der sonst so gelungene Schreibstil gleitet manchmal ins Blumige ab. Hartl ist zuweilen tief berührt und fast bist zu körperlichen Schmerzen hin entsetzt. Ob charismatische Gefühlsduselei oder feinfühlige Menschlichkeit darf jeder Leser und jede Leserin für sich entscheiden. Der Bucheinstieg mit den Verweisen zu den Serien DARK und Black Mirror bringt den Begriff Dystopie als Gegenentwurf zu der Eden-Kultur. An dieser Stelle (ganz zu Beginn) irritiert das jedoch und man gewinnt den Eindruck, es solle eben unbedingt noch eine popkulturelle Referenz mit hineingenommen werden.

Zuweilen gibt es Sprünge zwischen den einzelnen Unterkapiteln (meist bei den Illustrationserzählungen). Aufgrund mangelnder Überleitungen ist nicht immer klar, warum nun genau dieser Absatz auf den anderen folgt. Hier kann der Autor noch an seiner Organisation feilen. Bei einem Vortrag mag das nicht so ins Gewicht fallen, auf einem bedruckten Blatt Papier umso mehr.

Im Gegensatz zu einigen seiner Vorträge verzichtet Hartl in diesem Buch komplett auf Abbildungen und Diagramme. Gerade aufgrund der Fülle der verwendeten Datenmenge hätte eine Verwendung von visuellen Darstellungen dazu beitragen können, die vielfältigen Inhalte zu verdeutlichen.

Fehler

Die Dialektik der Aufklärung wird mit Verweis auf die Frankfurter Schule so erklärt, also ob sie sagen wolle, dass man mit der Vernunft gute und schlechte Dinge bewirken könne. Das mag für sich genommen so sein. Hartl verkennt in seiner Erklärung jedoch, dass Horkheimer und Adorno eine negative Dialektik meinten.

Auf Seite 119 heißt es, dass Sigmund Freud UND Alfred Adler den Sexualtrieb als grundlegende Dynamik des Menschen angesehen hätten; dies trifft allenfalls auf den frühen Adler zu. Zwischen Adler und Freud kam es über diese Frage im Jahre 1911 zum Bruch, da Adler zur Auffassung gelangte, die Kompensation des Minderwertigkeitskomplexes sei fundamentaler als der Sexualtrieb.

Theologie

Es gibt Andeutungen, dass Hartl den Schöpfungsbericht nicht als historisch ansieht und der Evolutionstheorie einiges abgewinnen kann (auch hier erinnert er mich an Keller). Ich sage bewusst Andeutungen, weil der Autor hier im Vagen bleibt. Wenn man ihn fragen würde, ob der Schöpfungsbericht historisch ist, würde er wahrscheinlich antworten, dass dies nicht entscheidend sei, da die Schöpfungserzählung auch als nicht-historischer Mythos ihre kulturelle und religiöse Funktion behalte. Auch der Titel von Hartls Dissertationsschrift – „Metaphorische Theologie“ – lässt vermuten, dass diese Lesart seiner grundsätzlichen Hermeneutik entspricht.

Während dem Lesen habe ich mich immer wieder gefragt, ob und wann Hartl anfängt theologischer zu argumentieren.  

Hartl benennt durchaus wichtige theologische Punkte. Diese schneidet er jedoch teils nur an ohne sie angemessen biblisch-theologisch aufzuarbeiten. Insgesamt kommt das Buch mit wenigen Verweisen auf die Bibel aus. Bei 432 Fußnoten hätte ein Autor, der promovierter Theologe ist, aber kaum Exegese betreibt (außer wenn er vom Schöpfungsbericht spricht), sich noch stärker auf Gottes Wort beziehen sollen. Ähnlich schwammig bis irreführend bleibt die Definition des Heiligen Geistes, die er „die gute Kraft, die dem Leben dient“ (S. 269) nennt.

Während dem gesamten ersten Hauptteil („Verbundenheit“) erwähnt Hartl auf über 70 Seiten nicht ein einziges Mal explizit den Begriff Sünde. Da Hartl von „Feinden“ der Verbundenheit schreibt, darf eine irgendwie geartete christliche Diskussion an dieser Stelle auf den zentralen Begriff der Sünde nicht verzichten. Fairerweise muss man sagen, dass Hartl gegen Ende des Buches noch von Sünde spricht; dies jedoch nur ein einziges Mal im gesamten Buch (auf S. 270). Diese Erklärung finde ich jedoch dann wiederum sehr gelungen; Hartl schreibt:

„Was damals in Eden zerbrochen ist, betrifft den innersten Punkt des Menschen. Kein politisches System kann es heilen.“ (S. 269) Und: „Das Herz des Problems ist das Problem des Herzens.“ (S. 270)

Auch beim Thema Erlösung empfinde ich Hartl als zu ungenau. Um den Leser einen Eindruck davon zu vermitteln zitiere ich den Autor im Original:

Die Botschaft Jesu von Nazareth unterschied sich radikal von den Philosophien und Religionen seiner Zeit. Er sprach von einem möglichen Heimkommen; davon, dass der Schöpfer des Universums ein Vater ist, ein liebevollerer Ursprung, als es die perfektesten Eltern je sein könnten. Doch um zu ihm zurückzukommen, sollten die Menschen radikal ihre alten Wege verlassen. Eine Kapitulation sei nötig, ein Sterben und eine Wiedergeburt. […] Das geht nicht ohne Anerkennung des eigenen Anteils an der Misere. […] Durch die Übernahme von Verantwortung dafür wird ein Mensch wieder fähig zur Verbundenheit mit sich selbst und anderen. (S. 272-273)

Nichts von dem was Hartl hier schreibt ist falsch, jedoch verbleibt es im Vagen. 

Ja, Jesu Botschaft war (und ist) radikal, aber in welcher Weise unterscheidet sie sich von den Denk- und Glaubenssystemen der damaligen (und heutigen) Zeit? 

Ja, der Schöpfer des Universums ist ein liebevoller Vater, aber worin unterscheidet sich das christliche Gottesbild von anderen Religionen wie z.B. dem Islam?

Ja, die Menschen sollen radikal ihre alten Wege verlassen, aber was heißt das konkret? Was ist der ethische Maßstab für die geforderte radikale Umorientierung? Die Lehre der biblischen Buße ist mit Hartls Worten höchstens angedeutet.

Ja, eine Kapitulation ist notwendig, aber vor wem und warum?

Ja, auch ein Sterben und eine Wiedergeburt sind notwendig, aber ist ein physisches Sterben gemeint oder eine Wiedergeburt im buddhistischen Sinn?

Und ja, „das geht nicht ohne Anerkennung des eigenen Anteils an der Misere“ und der „Übernahme von Verantwortung dafür“, was mir jedoch zu dezent formuliert ist. Eine konkretere Formulierung könnte lauten:

Der Sünder, der schuldig vor dem heiligen, einzig wahren Gott der Bibel steht, ist aufgerufen an das stellvertretende Sühneopfer Jesu Christi, welches dieser am Kreuz von Golgatha vollbracht hat, zu glauben und auf Christus allein zu vertrauen und von diesem Moment an sein Leben aus Dankbarkeit für die erfahrene Gnade an den Geboten Gottes zu orientieren.

Heimkommen?

Im letzten Unterkapitel „Besser als Eden“ (S. 273-274) wird es dann nochmal theologisch wild und eschatologisch inkohärent. Ja, „es gibt etwas Besseres als Eden“ (nämlich den Himmel), und ja „[d]er Weg der Geschichte verläuft nicht rückwärts“, aber was heißt denn Bitteschön „[d]er Geist ist mit denen, die das Neue hervorbringen (…)“? Also ist der Geist mit dem Silicon Valley, oder was? 

Der letzte Absatz des Buches ist es wert, in voller Länge zitiert zu werden:

Jesus hatte vom Haus seines Vaters gesprochen, das viele Wohnungen hat (Joh 14,2). Am Ende der Bibel steht etwas Besseres als das alte Paradies. Eine Stadt, in der Bäume des Lebens stehen und kristallklares Wasser fließt. Stadt und Garten zugleich. Eden 2.0, sozusagen. Diese Stadt wird nicht durch menschliches Schuften errichtet, sondern kommt vom Himmel her, wie ein Geschenk. In unserer Welt sind es indes wir, die angefragt sind. Wir sind es, die einer Ökologie des Herzens den Weg bereits müssen. Müssen – und können. Denn Menschen, die vom Geist des Lebens beseelt sind, bereiten dieser Gartenstadt den Weg. Sie prägen die Kultur durch Verbundenheit, Sinn und Schönheit. Von dort fließen belebende Ströme in das gefährdete menschliche Ökosystem. Diese Kultur fühlt sich zutiefst vertraut an, weil sie so ist, wie wir eigentlich leben wollen. Sie entstammt dem Ort, wo wir herkommen, und der Stadt, die auf uns wartet. Bei einer rauschenden Party mit einigen meiner kreativsten Freunde fiel uns ihr Name ein: Eden Culture.

Immerhin beginnt der Absatz mit einer Bibelstelle und der Begriff „Eden 2.0“ ist cool, aber danach wird’s schräg. Hartl meint, dass die himmlische Stadt nicht durch menschliches Zutun („schuften“) errichtet wird, sondern ein Geschenk Gottes ist (was richtig ist), nur um sofort festzuhalten, dass die (vom Geist beseelten) Menschen dieser Stadt den Weg bereiten, indem sie Träger der Eden Culture sind. Darin liegt ein potenzieller Widerspruch. Wer bringt denn nun die himmlische Stadt? Gott oder der Mensch? Diese Eschatologie (Lehre von den letzten Dingen) scheint von einer Kooperation zwischen Gott und Mensch auszugehen und ist, gemessen an den klassischen Endzeittheorien, am ehesten dem Postmillenialismus zuzuordnen. In diesem Zusammenhang wäre interessant zu erfahren, ob und an welcher Stelle, der Katholik Hartl die katholische Sonderlehre des Fegefeuers positioniert. Wer genau sind eigentlich die vom Geist beseelten Träger der Eden Culture? Alle Menschen? Alle Christen? Alle Katholiken? Was ist mit den Transhumanisten? Auf welchen institutionellen Ebenen findet der Prozess der Eden-Enkulturation statt? Gibt es Implikationen für die politische Ordnung? Wäre die EU eine geeignete Organisation die Ökologie der Herzen zu fördern? 

Schlusskapitel 

Aus der Lektüre des letzten Kapitels („Teil 4: Eden Culture“) ergeben sich viele Fragen, welche von Hartl unbeantwortet bleiben. Ein eklatanter Mangel dieses Buches ist, dass überhaupt nicht auf die Rolle der Kirche eingegangen wird (außer, dass Gottesdienste schön sein sollten, S.254). Dies ist ein massives Defizit, da die Gemeinde Gottes – der Leib Christi – doch der Ort ist, an dem sich das Reich Gottes in dieser Welt mainifestiert.

Fazit

Die Prämisse des Buches ist die Anknüpfung an das Verlusterlebnis des Menschen und an dessen Sehnsucht nach einem besseren Ort. Der Verdienst des Autors besteht darin, dieses religiöse Thema inmitten des säkularen Diskurses platziert zu haben. Chapeau! Die klare Kante, die der Autor in ethischen Fragen zeigt, ist ebenso begrüßenswert und die fachliche Fülle der Argumentation beeindruckt. Die Deskription ist stark; die Präskription jedoch schwach. Diese qualitative Schwäche wird gegen Ende des Buches besonders erkennbar: Hartl verbleibt meist im Vagen und scheut konkrete, dogmatische Aussagen, die von einem christlichen Theologen in solch einem bedeutenden Werk zu erwarten sind.