Angestossen durch einen Hinweis von Timothy Keller begann ich bei meiner Bibellese gezielt in Kommentaren zu lesen. Für das Hohelied fand ich eine ausgezeichnete Einleitung aus der Serie «Preaching the Word».
Die Ausgangslage: Jeder Abschnitt bietet strukturelle Schwierigkeiten, sprachliche Knacknüsse und dazu noch schwierig nachzuvollziehende Metaphern. «Das merkwürdigste Buch des AT» (Delitzsch), «eine grosse Bandbreite an Kommentaren und Interpretationen» (Marvin Pope). Auf jeden Fall enthält es etwas vom «Evangelium von Jesus» (vgl. Apg 8,35) und vom Geheimnis von Christus und seiner Gemeinde (vgl. Eph 5,32).
- Es ist ein Lied
Ein Lied ist da um gesungen zu werden, womöglich an der siebentägigen jüdischen Hochzeitsfeier (vgl. Gen 29,27; Richt 14,12; Jer 7,34). Es könnte von Sängern vorgetragen worden sein, wohl als Dialog zwischen einem Sopran und einem Tenor. Die sieben Tage symbolisieren die perfekte Neuschöpfung eines Ehebundes zwischen einem Mann und einer Frau. Wir bringen uns als Leser (und Verkündiger) in Schwierigkeiten, wenn wir zu schnell von der poetischen Gestalt zu den Anwendungen stürmen wollen.
- Ein Lied von der menschlichen Liebe
Diese Liebe ist in den Kontext der Ehe eingebettet. Zur damaligen Zeit gab es nur zwei Zustände für Sexualität: Freie Liebe innerhalb der Ehe oder sexuelle Sklaverei. Die Hochzeit wird erwähnt (3,11), ebenso wird die Frau als «Braut» angesprochen (sechsmal in den Kapiteln 4 und 5). Es handelt sich also um erotische Poesie im Rahmen der Ehe.
Ausleger von Origenes bis Spurgeon allegorisierten dieses Liebeslied. Wo jedoch das Sakrale und das Alltägliche voneinander getrennt werden, entsteht ein tief greifendes Problem! Beide fallen zusammen in der Menschwerdung des Gottessohnes (Joh 1,1+14), in der körperlichen Auferstehung (1Kor 6,12-20) und im Leben auf der neuen Erde (2Petr 3,13). Es geht also um zwei nackte Menschen – in einer offenen, aber keineswegs derben Beschreibung. O’Donnell empfiehlt elterliche und pastorale Begleitung, kein Leseverbot.
- Bestandteil des biblischen Kanons
Damals gab es keine hebräische Poesie ausserhalb des religiösen Kontextes. Das Bild des Gartens (4,12-5,1) – als Sinnbild der ehelichen Vereinigung – lässt uns beispielsweise an Eden zurückdenken. Wer das gesamte AT liest, zieht sofort Verbindungen zur Geschichte Hoseas, der Prüfung Hesekiels (16,7f), der Beschreibung Jeremias (2,2+19f) sowie Jesajas (54,5-8). Das Thema der ehelichen Untreue durchzieht die Propheten. Die Gedanken gehen natürlich auch zu Jesus dem Bräutigam (Joh 3,29), dem Ehegatten (2Kor 11,2) und zur Hochzeit des Lammes (Mt 22,2; Offb 19,7f). Es handelt sich um ein sogenanntes «Pfeilthema» (siehe D. A. Carson zu AT-Motiven mit Flugrichtung zu Christus).
- Ein Weisheitsbuch
Das Ziel der Weisheitsliteratur besteht darin den Leser weiser werden zu lassen. Der Refrain (2,7; 3,5; 8,4) ist als Ermahnung der Weisheit zu verstehen; ebenso die dreifache Wiederholung der gegenseitigen Zugehörigkeit von Mann und Frau (2,16; 6,3; 7,10). Die Warnung ergeht – im Unterschied zu den Sprüchen, wo junge Männer als Adressaten angesprochen sind – an junge Frauen. Sie werden aufgefordert auf ihren künftigen Ehemann zu warten. Es geht also um eine Lektion in Sachen Gruppendruck! (Auch die Sprüche mahnen, sich nicht der «fremden Frau» hinzugeben, sondern auf die «edle Frau», 31, zu warten.) Es handelt sich also um eine Art Entsprechung zur NT-Aufforderung, dass ältere Frauen jüngere unterweisen (Tit 2,3f).
Der Ausleger O’Donnell begeistert mich mit seiner nüchternen, didaktisch gekonnten und gleichwohl leidenschaftlichen Art der Auseinandersetzung mit dem Text. Bereits mit seiner Einführung zu Matthäus hat er mich überzeugt.