Ein Problem der Geschichtsschreibung anschaulich erklärt:
Wir leben in einer Zeit, in der die meisten der während der NS-Zeit erwachsenen Zeitzeugen nicht mehr leben oder aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters für Befragungen kaum mehr zur Verfügung stehen. Mit dem Abnehmen dieser direkten Zeugenaussagen scheint es, als ob die Holocaustforschung sozusagen in eine neue Phase gekommen ist: Und zwar nimmt das Deuten der Erzählungen in dem Masse zu – man könnte auch sagen: überhand -, in dem die Zahl der lebenden Zeugen abnimmt.
Das birgt Chancen und Gefahren. Die Chancen liegen in einer reflektierten Untersuchung und Zusammenführung der vielen einzelnen Berichte, also in einer Art Meta-Analyse. Die Gefahren liegen aber darin, dass man die Zeitzeugen selber vernachlässigt und die Geschichte zu überdeuten beginnt. …
Wenn Autoren voreingenommen an die vielen Problemstellungen der NS-Zeit herangehen, dann dienen ihnen diese Zeitzeugen mitunter nur als Material für ihre jeweils eigenen Erklärungsmodelle und Konstrukte. Man degradiert die Opfer damit allzu schnell zu ‘Anschauungs- und Deutungsmaterial’, und die Zeitzeugen treten dadurch bildlich gesprochen in die zweite Reihe, während diejenigen, die – ob zu Recht oder nicht, sei vorerst dahingestellt – die Deutungshoheit für sich beanspruchen, in die erste Reihe vorrücken. Eigentlich sollte es aber umgekehrt sein: Man sollte auf das hören, was uns die Zeugen sagen.
Alexander Batthyany. Mythos Frankl? Geschichte der Logotherapie und Existenzanalyse 1925-1945. LIT: Wien, 2008. (9-10)