Input: Grundsätzliche Reflexion zum Verhältnis von Christen zum Staat

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Nach zwei Jahren im Ausnahmezustand, bedingt durch das Corona-Virus, ist es Zeit für eine tiefer gehende Reflexion. Auch bei mir selbst begann es mit einer Feststellung in dieser Art:

Es war im vergangenen Jahr kurz vor Karfreitag. Ich hatte mich gerade an den Schreibtisch gesetzt, um mich auf die anstehende Wortverkündigung vorzubereiten. Plötzlich trat mir schlagartig das vor mein inneres Auge, was mir natürlich irgendwie schon vorher klar war: Ich werde den Gottesdienst am Karfreitag nicht zusammen mit der Gemeinde feiern können. Jedes Gemeindemitglied wird in seinem Wohnzimmer vor seinem Computer sitzen und dort ziemlich isoliert Gott für sein herrliches Heilswerk loben, ihn im Gebet und in der Fürbitte anrufen und das Glaubensbekenntnis sprechen. Die Predigt wird irgendwann vorher gefilmt werden, um sie dann zu der vorgesehenen Zeit im Internet hochzuladen. Wenn ich die Predigt von der Kanzel halten werde, werden für die Filmaufnahme lediglich zwei oder drei Technikspezialisten anwesend sein. Und diese jungen Männer werden während meiner Predigt vorrangig mit ihren technischen Apparaturen beschäftigt sein.

… Dort, wo (noch) nicht jegliches Zusammenkommen der Gemeinde untersagt war, eiferten landes- und freikirchliche Verantwortungsträger dafür, die staatlichen Verordnungen nicht nur umzusetzen, sondern sie geradezu überzuerfüllen: Man habe nicht nur aus Fürsorge gegenüber Leib und Leben des Nächsten auf jegliche Präsenz-Gemeindeveranstaltungen zu verzichten und stattdessen auf Video-Zoom-Meetings umzustellen, sondern die Gottesdiensthäuser seien auch deswegen verschlossen zu halten, weil man auf diese Weise Solidarität mit den anderen Betroffenen üben könne und dies Ausdruck eines christlichen Zeugnisses sei.

Deshalb gebe ich Jürgen-Burkhart Klautke, systematischer Theologe und Ethiker, Recht, “einmal nüchtern und möglichst unaufgeregt die Stellung der Christen gegenüber der Staatsgewalt und natürlich auch die Beziehung der Gemeinde Gottes zur weltlichen Macht im Fall des politischen Ausnahmezustandes zu bedenken.” Es geht nicht darum, Bestätigungen für die eigene bewusste oder unbewusste Haltung zu suchen, sondern die Grundsatzfrage aufgrund der Bibel und der Kirchengeschichte zu hinterfragen und neues Licht darauf werfen zu lassen.

In einer meisterhaften Schilderung der Verhandlung der Juden mit Pontius Pilatus bringt der Autor eine zeitlose Problematik auf den Punkt:

In seinem Reden zeigte sich Nervosität (Redest du nicht mit mirJoh. 19,10) und geradezu hilflose Verlegenheit, ja Fassungslosigkeit (er verwunderte sichMt. 27,14Mk. 15,5). Seine Feigheit vor den Menschen war durchweg greifbar (er fürchtete sich noch mehrJoh. 19,8). Diese Zaghaftigkeit verband sich bei dem römischen Staatsbeamten mit einer geradezu grotesken, aber auch sehr typischen, Überkorrektheit. Plötzlich fiel Pilatus nämlich ein, er sei gar nicht zuständig, sodass er den Fall wie eine heiße Kartoffel an Herodes abzugeben versuchte (Lk. 23,6–12). Überhaupt sieht man in seinem gesamten Verhalten seine Unsicherheit: in seiner Unschlüssigkeit, in seinen Ausflüchten und seinen mehrfachen Meinungsumschwüngen (Ich finde keine Schuld an ihm, Joh. 18,38, siehe insgesamt Lk. 23,13–25), dann sein rituelles Händewaschen (Mt. 27,24) und schließlich das Fällen des Todesurteils (Mt. 27,26Joh. 19,16).

Im dritten Teil, in dem es um die Auslegungsgeschichte von Römer 13 geht, setzt Klautke nach:

Ein historischer Rückblick kostet Anstrengung. Es erscheint manchmal sogar eine Zumutung zu sein. Aber was wäre, wenn man endlich einmal bereit wäre, aus der Geschichte für die Gegenwart zu lernen? Würde sich eine solche Mühe dann nicht lohnen? Außerdem kann man auf diese Weise eine Ahnung davon bekommen, dass die Achse, um die sich die Kirchengeschichte dreht, ja die ganze Weltgeschichte, das Wort Gottes ist. Schließlich kann es ja auch nicht immer nur darum gehen, angesichts von staatlichen Übergriffen über die Regierenden zu klagen oder die Aushebelung des Rechts im Nachhinein zu bedauern oder anzuprangern. Vielmehr sollten Christen versuchen, ein Raster für die Beantwortung der Frage zu finden: Was heißt das Gebot, der Obrigkeit untertan zu sein, für uns und unser Verhalten gegenüber der Obrigkeit, und was ist der von Gott gegebene Bezugsrahmen, in denen Politiker ihre Aufgabe erfüllen und ihre Entscheidungen treffen sollen?

Ich empfehle diese Studie zur Reflexion. Selbst wenn wir zu anderen Schlussfolgerungen kommen, geben wir uns über die Abzweigungen Rechenschaft ab. Es steht uns Christen wohl an, nicht unbedacht auf den einen oder anderen Zug aufzuspringen.

Hier geht es zu den bisher erschienen drei Teilen (Teil I, Teil II, Teil III). Zudem erscheinen die Artikel als Podcast. Vom gleichen Autor ist dessen zweibändige Dissertation “Recht auf Widerstand gegen die Obrigkeit” antiquarisch erhältlich.