Zitat der Woche: Kierkegaard und der Einzelne

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Einmal mehr bewundere ich die analytisch-literarische Stärke von Rüdiger Safranski (* 1945). Er hat Sören Kierkegaard meines Erachtens sehr trefflich charakterisiert (in Einzeln sein, Kapitel 7):

Was aber hat es mit der Kategorie des Einzelnen bei Kierkegaard auf sich? Was ist damit gemeint über den bereits damals geläufigen Individualismus hinaus, wonach jeder einen Anspruch hat, wichtig genommen zu werden, jeder aber auch besorgt sein sollte, etwas aus sich zu machen und sich selbst irgendwie zur Geltung zu bringen?

… (Bei Kierkegaard steht) die Frage im Mittelpunkt, was es bedeutet, wirklich ein Christ zu sein in einer Gesellschaft, die formell und nominell als christlich gilt. Seine Antwort: Christsein bedeutet, sich als Einzelner allein vor Gott gestellt zu fühlen. (Er vertrat die Ansicht, dass) die christliche Offenbarung ursprünglich die Einzelheit des Einzelnen anspricht, sie wachruft, herausfordert.

… Und so sieht er es als seine Aufgabe an, das Christentum wieder zu verinnerlichen, und das heißt: zu vereinzeln. Sein ursprünglicher Sinn soll wiederhergestellt werden, der vollständig verloren geht, wenn, wie etwa seinerzeit in Dänemark, die protestantische Taufe mit der Staatsbürgerschaft verbunden war, die man bei ausdrücklich erklärtem Unglauben verlor.

(Der Glaube sollte) wieder existentiell verstanden werden. Es war Kierkegaard, der diesen Ausdruck zum ersten Mal emphatisch verwendete als Bezeichnung für das, was den Einzelnen unbedingt angeht und wodurch er sich womöglich überhaupt erst in seiner Einzelheit erfährt.

Gott macht den Menschen auf radikale Weise zum Einzelnen — das ist der Kern der religiösen Erfahrung Kierkegaards. Vor Gott erst, im Glauben also, wird man wahrhaft zu sich selbst gerufen. … Glaube, verstanden als Hingabe, ist nicht eine Art Überzeugung, die man mit anderen teilt, auch nicht bloß ein gemeinschaftliches Ritual; er erschöpft sich nicht in guten Taten und sittlich korrekten Überzeugungen, durch die man sich Ansehen verschafft. Glaube ist für Kierkegaard, so könnte man sagen, ein vertikaler Akt, den jeder Einzelne ganz alleine vollziehen muss, ohne horizontale Absicherung. Glaube ist eben kein Gemeinschaftswerk, alleine muss man dazu imstande sein, alleine vor Gott.

… Der Sprung ist die für Kierkegaard maßgebliche Kategorie des inneren Handelns und damit der Freiheit. Den Vorgang des Sprungs kontrastiert Kierkegaard mit dem naturwissenschaftlichen Begriff der Kausalität einerseits und dem Hegel’schen Begriff der Vermittlung andererseits. Kausalität ist die Notwendigkeit, dass und wie A auf B folgt. Die Natur macht keine Sprünge, heißt es. Hier gibt es einen allseitigen Zusammenhang, der Freiheit ausschließt. Die andere Art, den allseitigen Zusammenhang zu verstehen, war zu Kierkegaards Zeit die Hegel’sche Vermittlung. Wenn etwas mit etwas vermittelt ist, so wird ein bedingender Zusammenhang konstatiert, der zwar nicht so eng und strikt ist wie Kausalität, aber doch objektiv genug, um das Plötzliche, Spontane, bloß Unwillkürliche zurückzuweisen.

Die ominösen Sprünge ereignen sich für Kierkegaard, wenn der einzelne existierende Mensch seine Freiheit ergreift, indem er sich entscheidet. Mit jeder Entscheidung ist ein Sprung verbunden, er kann größer oder kleiner sein. Je individueller das Leben geführt wird, desto diskontinuierlicher, sprunghafter verläuft es. Diese selbstbestimmte Sprunghaftigkeit antwortet auf die Zumutung, wie mit einem sonst umgesprungen wird. Entscheidung als Sprung ist für Kierkegaard die existentielle Situation schlechthin. Diese Deutung der menschlichen Situation wird er an den Existentialismus des 20. Jahrhunderts weitergeben, allerdings ohne den christlichen Glaubenssinn dieses Sprungs.

Ich bin seit Jahren daran Kierkegaard besser fassen zu lernen. Bisher halfen mir besonders die literarische Biografie von Joachim Garff und der philosophische Leben-Streifzug Der Philosoph des Herzens. Meine Distanziertheit versuchte ich hier zu fassen. Weitere Hinweise habe ich unter Der alte Freund Kierkegaard notiert.