Wenn ich die Lektüre meiner Söhne in Deutsch, Französisch und Englisch bedenke, überkommt mich die Wehmut. Es finden sich kaum Klassiker darunter. Friedrich Dürrenmatt, Schweizer Literat aus dem 20. Jahrhundert, scheint ein Rückgriff auf längst vergangene Zeiten zu sein. Shakespeare oder gar Dante oder Augustinus? Noch nie gehört. Schon gar nicht Virgil oder Homer. Dies hat zu tun mit der dominanten Geisteshaltung des Historizismus. Im vermeintlichen Anspruch auf eine Art von Neutralität und Objektivität wird die Geschichte komplett der Deutung der Gegenwart unterworfen. Was gestern war, wird heute so gesehen. Morgen wird das Vorgestern schon wieder anders angesehen. Der Referenzpunkt verschiebt sich ständig. Diese Doktrin sorgt für eine grosse Achtlosigkeit gegenüber den Schätzen vergangener Jahrhunderte. Wir sind besessen von Gegenwart, verbunden mit einer punktuellen Begeisterung für zukünftige Entwicklungen – auf Kosten der Vergangenheit (siehe hier). Vor fünf Jahren formulierte ich es so:
Einer meiner Söhne meinte: “Die meisten jungen Leute interessieren sich nicht für Geschichte.” Ich erwiderte: “Das liegt auch daran, dass sie keinen Zugang dazu haben.” Er: “Aber es liegt auch an der Zeit. Es interessiert niemanden, was gestern war.” Diese Geschichtsvergessenheit macht mir zu schaffen.
Umso glücklicher bin ich darüber, dass einzelne Bewegungen die Tradition nicht um ihrer selbst willen, sondern zur Hebung der Weisheit früherer Generationen wieder betonen. Klassische Texte von der Antike, aus dem Mittelalter und aus den letzten 300 Jahren werden frisch übersetzt und kritisch kommentiert. Auf diese Weise soll auch für uneingeführte Leser rascher Zugang zu den Texten selbst geschaffen werden. Anstatt der starken Leserorientierung mit dem Fokus der unmittelbaren persönlichen Resonanz werden wir zunächst in die grossen Fragen der Menschheit, die über Jahrtausende dieselben bleiben, hineingenommen. Von dieser “Erhöhung” aus können wir uns wiederum in unserer Zeit verorten und Lektionen für heute und morgen ableiten.
Die Serie “Ignatius Critical Editions” bietet rund zwei Dutzend Klassiker in genauer Übersetzung, versehen mit Anmerkungen und eingeführt mit einigen Aufsätzen zur Wiedereinführung in diese Schätze der Vergangenheit an. In 24 Podcasts referiert der Initiator und Editor Joseph Pearce über Klassiker der Weltliteratur. Ich empfehle diese Serie für Heranwachsende und uns im Alter Vorgerückte.
Joseph Pearce lernte ich übrigens durch die überaus reichhaltigen Biografien zu Chesterton (Rezi), Solzhenitsyn (Rezi sowie Zitate I und Zitate II) und Belloc (Rezi) schätzen. In “Literature: What Every Catholic Should Know” erklärt er, weshalb die intensive Beschäftigung mit dem literarischen Reichtum vergangener Generationen aus der Sicht des judeo-christlichen Erbes ungemein hilfreich sein kann.