«Wir sollten die ideologische Mentalität vermeiden, die sich auf Erzählungen versteift, anstatt Situationen sorgfältig zu evaluieren.» (89)
Christen reichen heisse Kartoffeln nicht weiter
Die Critical Race Theory (CRT) hat auch die europäischen Ausbildungsstätten und Universitäten längst erreicht. Wie kommt es, dass eine Konzertgruppe mit Dreadlocks nicht auftreten darf? Weshalb verlassen Spitzenjournalisten wie Judith Sevenc Basad die BILD-Zeitung? Solche Meldungen lassen uns selbst immer noch auf Armlänge. Darum frage ich konkreter: Wie können wir berechtigte Anliegen von verkehrten und schädlichen Ideen unterscheiden? Wie werden wir davon bewahrt als Kulturpessimisten in unseren Lehnstühlen sitzend aus dem Fenster zu zeigen oder an den (virtuellen) Stammtischen erhitzt zu wettern?
Jenseits von kalter Rechtgläubigkeit und emotionalen Mimosen
Wie finden wir auch in den christlichen Gemeinden einen Weg jenseits von kalter Rechtgläubigkeit auf der einen und einem Einknicken vor einer korrupten Ideologie andererseits (lies diese Kolumne)? Dies sind Fragen, die wir uns heute stellen sollten, anstatt morgen uns Augen reibend darüber zu wundern, warum eine nächste Generation unsere Kirchgemeinde verlässt oder an Familientreffen beginnt verstörende Gedanken zu teilen. Kevin DeYoung hat 2021 mit einer ausgezeichneten Typisierung die unterschiedlichen Lager innerhalb der christlichen Gemeinde beschrieben.
Ein Apologet mit Rückgrat und Feingefühl
Der Apologet Douglas Groothuis (* 1957), der vor Jahren bereits mit seinem Buch zum Postmodernismus (Truth Decay: Defending Christianity Against the Challenges of Postmodernism, 2000) Hilfe leistete, sich vor der Jahrtausendwende mit dem Zustand unserer Seele in den unendlichen Weiten der Onlinewelt auseinandersetzte (The Soul in Cyberspace, 1999) und in den letzten Jahren auch mit einem feinfühligen Journal als leidender Ehemann an der Seite einer krebskranken Frau an die Öffentlichkeit gelangte (Walking Through Twilight: A Wife’s Illness–A Philosopher’s Lament, 2017) sowie nicht zuletzt mit seinem Standardwerk «Christian Apologetics» (2012) einen soliden Beitrag für die defensive und offensive Verteidigung des christlichen Glaubens leistet, nimmt uns auf 200 Seiten zu einer brennenden Frage der Gegenwart an die Hand.
Das A jeder Auseinandersetzung: Saubere Recherche
Dabei beginnt er mit der Überlegung, dass zu einer seriösen Recherche saubere Prinzipien für die Wahrheitsfindung gehören. Welchen Quellen wenden wir uns zu? Welchen Schulen gehören die Denker an, die wir studieren und deren Argumentation wir uns zu eigen machen?
So drückt der Autor bereits im Vorwort die Hoffnung aus, dass er unverlässliche Quellen meidet und seine Analyse in vertrauenswürdigen gründet (XIII). Er lässt uns gleich zu Beginn wissen, in welchen Quellen er ausführlich getrunken hatte, nämlich vor allem Thomas Sowell (* 1930). Worin bestehen einige der gesellschaftspolitischen Grundannahmen dieses Denkers?
- Weder eine Revolution noch ein Sozialprogramm werden von aussen her eine wesentliche Veränderung bringen. Das Problem steckt in uns Menschen drin.
- Es gibt deshalb Grund zur Skepsis für Programme zur Beseitigung von Armut, Rassismus, Sexismus und anderer gesellschaftlichen Übel.
- Ein zu mächtiger Staat akzentuiert die Übel, anstatt sie zu lindern oder zu beseitigen.
Der zweite Schritt: Uns mit den Argumenten vertraut machen
Was sind die tragenden Argumente der kritischen Rassentheorie (XIX-XXI)?
- Unterdrückung ist in die Machart der Kultur verwoben und muss durch kulturelle Kritik blossgestellt werden.
- Individuen müssen immer als Mitglieder einer Gruppe angesehen und behandelt werden.
- POC (People of Color) sind durch das gesamte soziale System benachteiligt. Alle weissen Menschen sind rassistisch gesinnt.
- Rasse definiert, wer unterdrückt ist und wer unterdrückt. (Als logischer Widerspruch dazu wird postuliert, dass Rasse «sozial konstruiert» sei).
- Durch die Kritik können die kulturell und wirtschaftlich Unterdrückten ihr falsches Bewusstsein loswerden.
- Weisse Menschen werden ihren Kampf für ihre Privilegien beibehalten – auch unbewusst.
- POC und andere Minderheiten haben eine privilegierte Perspektive, wenn es um rassische Unterdrückung geht.
Groothuis fasst die Parallelen zwischen marxistischen Argumenten und der CRT so zusammen (15):
- Beide teilen die Welt in Unterdrücker und Unterdrückte ein, eine radikale Dichotomie, aus der ihre gesamte Weltanschauung erwächst.
- Beide behaupten, sie allein besäßen den Standpunkt, von dem aus die Gesellschaft verstanden werden kann.
- Beide behaupten, dass die Unterdrücker – definiert als die Bourgeoisie (für Marxisten) oder als diejenigen, die mit der weißen Vorherrschaft im Bunde stehen (für CRT) – durch ihre Voreingenommenheit, ihre Vorurteile und Privilegien hoffnungslos getäuscht sind und die Realität nicht so wahrnehmen, wie sie ist.
- Sie müssen umerzogen oder zum Schweigen gebracht werden oder Schlimmeres. …
- Beide sehen sich als die einzige Vorhut, von der sinnvolle Veränderungen (Revolution) ausgehen werden.
- Beide verwenden eine “der Zweck heiligt die Mittel”- oder “mit allen Mitteln”-Mentalität, um ihre Ziele zu erreichen.
Dem Feuer in der Strasse mit heiligen Flammen entgegnen
«Um dem Feuer in der Strasse zu begegnen, brauchen wir die richtige Art von Feuer in unseren Herzen und in unserem Verstand.» (19) Diesem Postulat kann ich von ganzem Herzen anschliessen. Wie viele Christen stand den tektonischen Verschiebungen der letzten Jahrzehnte apathisch gegenüber und waren nur mit «Häusle baue», Planung von Urlauben und der unterhaltsamen Verkürzung der Zeit bis zur Rente beschäftigt? Kein Wunder, dass ihre Kinder und Enkel das denkerische Vakuum mit den neuen Ideen füllen. Sie tun dies allerdings auf ihre eigene Art. Es kann schon mal passieren, dass sie nach der Produktion eines Clips direkt in den nächsten Kurzurlaub starten oder ihre Eltern ohne Skrupel für einen Sabbatical anpumpen. Ihnen ist schliesslich durch Worte und Tat eingeredet worden, dass logische Widersprüche zum Leben gehörten.
«Egal wie ernst die Situation sich präsentiert und wie trübe die Aussichten für eine Nation sind, der heilige Gott thront über ihr und beurteilt Gottes wie Böses. Er wird zu Seiner Zeit die Bösen richten und die Gerechten belohnen (Psalm 11).» (20) Gerade dieses Vertrauen in die göttliche Souveränität legt die Energie frei, um diszipliniert nach Wahrheit zu suchen und uns kritisch mit dem Umgang mit Medien auseinanderzusetzen (vgl. 21)
Grundkategorien biblischer Welt
Es wird die Aufgabe der Verkündigung innerhalb der nächsten Jahre zu sein, die biblischen Grundkategorien auf die aktuellen Fragen der Zeit anzuwenden. Dazu gehören:
- Wahre moralische Schuld (Francis Schaeffer, zit. 30): Alle Menschen sind durch wahre moralische Schuld von Gott getrennt.
- Versöhnung (32f): Die Wiederherstellung des Bruchs durch die wahre moralische Schuld geschieht durch Rechtfertigung von göttlicher Seite. Selbstversöhnung und Selbstrechtfertigung sind unzureichende, unmögliche menschliche Versuche.
- Anbetung (36): Wenn jemand vor einem anderen Sterblichen niederkniet, kommt dies falscher Anbetung aufgrund von Selbsthass gleich.
- Bundesschluss (43): Ein (nationaler) Bundesschluss wird mit dem Bewusstsein der Ehre und Verpflichtung gegenüber der transzendenten Realität geschlossen und verfügt über bindende moralische Kraft für alle Bürger.
- Vaterlandsliebe (56): Qualifizierter Patriotismus dient dem Gemeinwohl. Gott hat uns als Bürger und Mitglieder einer Kirchgemeinde als handelnde Wesen in die Geschichte hineingestellt.
- Rassismus (64): Individuen, die abwertende Überzeugungen und negative Emotionen über Mitglieder ausserhalb ihrer eigenen Rasse hegen und pflegen
- Ideologie (88): Eine engstirnige und illegitime, von Eigeninteressen geleitete Sichtweise, die weder rational noch wahr sein kann;
Deshalb sind aus christlicher Sicht abzulehnen:
- Vergangene Diskriminierung durch gegenwärtige Diskriminierung zu bekämpfen (61)
- Unqualifizierter Egalitarismus: Er führt zu grassierender Ungleichheit (vgl. 62)
- Pauschale Schuldzuweisung für sozio-ökonomische Ungleichheiten (66)
- Standpunkttheorie: Menschen innerhalb einer Gruppe können sich nicht über ihren sozial konditionierten Standpunkt hinausbewegen (vgl. 76)
- Weisse Menschen sind schwarzen gegenüber minderwertig (77)
- Zugang zu Institutionen und Stellen nur aufgrund von Gruppenzugehörigkeiten (80)
- Eine Sicht, die Diskussionen über andere Standpunkte ausser dem eigenen revolutionären ausschliesst (91)
Wahrheit im Verstand, heiliges Feuer in den Knochen, Liebe in den Herzen
Worte können töten oder heilen. Groothuis schliesst das Buch mit den Worten aus Jakobus 3,13-18. Das Feuer wird entfacht und verbreitet sich durch das Säen, Wachsen und Ernten von verkehrten Ideen. Ideen haben Konsequenzen.
Wie also sollen wir ihnen als Christen begegnen? Der Autor schlägt einen vierfachen Weg vor (171, 186): Es beginnt damit die Wahrheit in unseren Gedanken zu erkennen und unser inneres «Rahmenwerk» entsprechend zu ordnen. «Wahres geistliches Leben kann an einem Ende nicht von der Wahrheit getrennt noch am anderen vom gesamten Menschen und der gesamten Kultur losgelöst werden.» (171, zit. Francis Schaeffer) Dem Eichen unseres inneren Kompasses folgt die Arbeit an unserem Charakter, in biblischer Terminologie «Heiligung» genannt. Dies wiederum treibt uns ins Gebet für unsere Obrigkeit (1Tim 2,1-3). Sünde treibt ein Volk in den Niedergang (Spr 14,34), das schleckt – wie wir Schweizer sagen – keine Geiss’ weg.
Zu den eindrücklichsten Stellen des Buches gehört ein Gebet aus dem Bürgerkriegsjahr 1863, verabschiedet durch den damaligen Präsidenten Abraham Lincoln. Ein kleiner Auszug:
… wir haben an Zahl, Reichtum und Macht zugenommen wie keine andere Nation zuvor. Aber wir haben Gott vergessen. Wir haben die gnädige Hand vergessen, die uns in Frieden bewahrt und uns vermehrt, bereichert und gestärkt hat. Wir haben uns in der Arglist unseres Herzens eingebildet, dass all diese Segnungen durch eine überlegene Weisheit und Tugend von uns selbst hervorgebracht wurden. (zit. 184)
Wohlgemerkt: Erst der vierte Schritt ist die soziale Aktion. Wiederum fragt sich: Womit beginnen? Groothuis beginnt meines Erachtens zu Recht mit der Ausbildung der nächsten Generationen. Gerade erst schrieb ich:
Ich staune ob der Naivität vieler christlicher Eltern. Die ideologische Ausgangslage ist nochmals deutlich angespannter als vor zehn Jahren. Für künftige Generationen kann ich nur raten: Setzt dieses Thema ganz oben auf eure Liste der Themen, die ihr für euch bedenkt. Ob Privatunterricht, Kooperativen, Privatschulen oder Wohnortswechsel: Zusätzliches Investment wird nötig sein.
Interessant und für uns Europäer eher ungewohnt ist das Aufgreifen nationaler Rituale. Groothuis empfiehlt das regelmässige Lesen der amerikanischen Verfassung sowie die Einführung von (gesunden) Ritualen. Dazu kann gehören, an bestimmten Tagen im Jahr die Frage nach der Gerechtigkeit aus biblischer Weltsicht in Familien und Gemeinden aufzugreifen.
Eine reale Bedrohung
Bis jetzt habe ich kein Wort zur US-amerikanischen Färbung des Buches verloren. Richtig – weil ich überzeugt bin, dass Groothuis Massstäbe für die Wahrheitssuche setzt, die für uns europäische Christen wichtig sind. Erst jetzt und nicht vorher stimme ich der Warnung von Voddie Baucham in den Endorsements zu, dass die CRT nicht nur das Evangelium, sondern grundsätzlich die Machart der amerikanischen (westlichen) angreife.
Neben den bereits beschriebenen vier Schritten, die zu einem Deep Dive für die vielleicht prominenteste Frage der Gegenwart gehört, hoffe ich nach wie vor, dass die Bewegung sich selbst ins Abseits manövriert und sich damit den eigenen Nährboden entzieht. Die Familie ist Gottes Schöpfung ebenso wie die Völker das Machwerk Seiner Hände – die religiöse Veranlagung. Letztlich ist die CRT nur von der christlichen Weltsicht her zu erklären. Die drei Kategorien Familie, Staat und Glaube, die systematisch abgeschafft werden, sind niemals tot zu kriegen. Allerdings werden wir in den kommenden Jahren darauf einstellen müssen, als Christen nicht nur in die Ecke «unattraktiv», sondern «gefährlich» gestellt zu werden. Es lohnt sich allemal zu erkunden, wofür wir unseren Kopf hinhalten werden und unsere Kampfplätze sorgfältig auszuwählen.