Rebecca McLaughlin nimmt in ihren beiden wichtigen Büchern, die neulich in die deutsche Sprache übersetzt worden sind, wiederholt Bezug auf Harry Potter. Seit dem Erscheinen der Serie ist Harry Potter unter Christen höchst umstritten. Ich habe mich eingehend mit den Inhalten beschäftigt.
Grosse Bücher enthalten drei Gütezeichen:
- Adressieren sie die grossen Fragen des menschlichen Lebens?
- Werden durch die kunstvolle Darstellung Antworten auf diese Fragen gegeben?
- Sind diese Antworten erbaulich für die Beziehung zu Gott, Menschen und der übrigen Schöpfung?
Solch grundlegende Fragen des menschlichen Lebens können sein:
- Was ist der Daseinszweck des menschlichen Lebens?
- Was ist die Antwort auf das Geheimnis des Todes?
- Was macht den Menschen gut bzw. böse? Was macht Menschlichkeit grundsätzlich aus?
- Wie gehen wir mit Veränderung um?
- Wie gestalten wir Beziehungen?
Die Gütezeichen sind meines Erachtens vollumfänglich erfüllt. Der Rowlings-Experte John Granger war für mich eine wesentliche Quelle für die Urteilsbildung. Er sieht die Erfolgsautorin als Literaturwissenschaftler in der Tradition der englischen bzw. europäischen Literatur. Er nimmt eine wesentliche Unterscheidung zwischen zwei Begriffen vor:
- Incantational: Magie, die in der Form einer Geschichte auf den menschlichen Hunger für eine Realität hinter der physischen Welt Bezug nimmt
- Inovcational: Schwarze Magie mit dem Zweck des Hervorrufens bzw. In-Kontakt-Tretens
In How Harry Cast His Spell: The Meaning behind the Mania for J. K. Rowling’s Bestselling Books erläutert Granger in den ersten zehn Kapiteln, warum die Serie aus christlicher Weltsicht Wesentliches liefert:
- “Gegenzauber” für den rein materialistisch ausgerichteten Westen
- Darstellung des kosmischen Konflikts zwischen Gut und Böse
- Systematische Führung durch den Dreiklang Leben – Tod – Auferstehung
- Der Geschichte-Zyklus ist systematisch um die Phasen der Veränderung herum aufgebaut.
- Doppelgänger weisen auf das Spannungsfeld der menschlichen Natur hin: In Gottes Ebenbild geschaffen, in Sünde gefallen
- Überraschende Schlusskapitel schlagen eine Lösung zur Überwindung sündiger Vorurteile vor.
- Der Tod ist nie fern von der “Sichtlinie” des Lesers – ebenso der letztliche Triumpf der Liebe über den Tod
- Die Frage der menschlichen Identität wird durch Harrys Entscheide, Veränderungsprozess und letztlich seine Bestimmung exzellent aufgegriffen.
- Die Symbole sind bewusst und gewollt als Zeigefinger auf die geistliche Realität hin angelegt.
- Auch die Namen enthalten (bewusst) verborgene geistliche Bedeutung.
Hier sind einige strukturelle Schlüssel:
- Das Haus der Gryffindor vs. das Haus der Slytherin (in konzentrischen Kreisen): Harry (mit Ron und Hermine) vs. Draco (mit Crabbie und Goyle); James Potter, Remus Lupin und Sirius Black vs. Lucius Malfoy mit den Eltern von Crabbie und Goyle; der Orden der Phönix mit Albus Dumbldore vs. die Totesser mit Lord Voldemort; der Gründer Godric Gryffindor mit dem Sprechenden Hut vs. der Basislisk Salazar Slytherin in der Geheimen Kammer
- Die Struktur der Geschichten: Start (in der Muggle-Welt bei Familie Dursley), Flucht (durch den Einbruch der unsichtbaren Welt), Geheimnis (geheimnisvolle Vorgänge, die einer Lösung bedürfen), Krise (unvermittelt mit Situtationen des Bösen konfrontiert, die der unmittelbaren Antwort bedürfen), Abstieg/Untertauchen (Aufenthalt in der “Unterwelt”), Kampf (mit überraschendem Ausgang), Christus-Symbole (Tod und Hilfe von aussen), Wiederkehr (Rückkehr in die Welt der Lebendigen), Offenbarung (Zusammenhänge erklärt), Schluss (wieder zurück an den Geleisen in Hogwarts).
- Rowlings bezeichnete sich 1998 in einem Interview nicht als Hexe, sondern als Alchemist. Die Alchemie widerspiegelt sich in Buchtiteln, in den Charaktern, in Harrys schrittweiser Transformation, in der Anordnung der Bücher, in den Farben, in den drei Zuständen schwarz/unrein, weiss/reinigen, rot/perfekt) und in den vielen Bildern.
- Systematisch angeordnete charakterliche Gegensätze: Slytherin und Gryffindor; Hagrid und Grawp; Draco und Dudley; Harry und Draco; Sirius und James; Ron und Hermine; Lily und Petunia; Peter und Neville; Harry und Neville; Grindelwald und Dumbledore; Harry und Voldemort
Charakteren, Institutionen und Vorgänge sind herausragend dargestellt. Dazu gehören für mich:
- Familie Dursley mit dem verwöhnten und verzogenen Einzelkind Dudley
- Familie Weasley: Grossfamilie, überbehütende Mutter und intellektueller Vater; Geldsorgen, Fleiss, Geschwisterfolge (Gutmütigkeit, Ehrgeiz, Zwillinge mit Flausen und Schulmüdigkeit, Beschämung, die Leiden der jüngsten Tochter)
- Hermines Einsatz für die Hauselfen (Rechte von Unterdrückten)
- Rons Beschämung wegen den knappen finanziellen Ressourcen und sein Streben nach Anerkennung
- Dumbledores Weisheit und Humor in der Führung der Schule
- Die Herausforderungen der Ausbildung (Lernen als Beziehungsgeschehen zwischen Lehrern und Schülern, schrittweises Aneignen und Wachsen, unterschiedliche Disziplinen und Begabungen, Erfolge und Krisen, das Leben ausserhalb des Klassenzimmers und der Bibliothek, die Verknüpfung mit der Herausforderungen des Lebens)
- Ambivalenz in der Begegnung mit Snape
- Harrys charakterliche Entwicklung bis zu seiner Selbsthingabe
- Der zwischenzeitliche Streit zwischen Harry, Ron und Hermine
Würde ich Harry Potter uneingeschränkt empfehlen? Das gehört für mich in den Bereich des Gewissens. Wenn sie nicht erbauen bzw. anderen zur Erbauung dienen, rate ich davon ab.