Input: Kultur und Weltanschauung – eine umfassende Begriffsbestimmung

Christopher Watkin hat den Kulturbegriff klug und umfassend ausgearbeitet (in Critical Biblical Theory, 4-13). Er geht fasst zunächst die unterschiedlichen Konzepte zusammen:

Einige Ansätze betonen den kognitiven Aspekt der Kultur: Ideen, Konzepte und Weltanschauungen. Andere konzentrieren sich auf Erzählungen und Symbole. Wieder andere unterstreichen die verhaltensbezogene, körperliche, gewohnheitsmäßige Dimension oder stellen die Objekte und Artefakte einer Kultur in den Vordergrund.

Zudem nennt er einige Autoren mit eigenen Begriffsbildungen:

Der niederländische Theologe Herman Bavinck spricht von einer “Welt- und Lebenssicht” (world-and-life view, Christian Worldview, 11-13) , Francis Schaeffer von einer “Gesamtsicht” (total view, A Christian Manifesto, 61-62), Cornelius Van Til von einem “Totalitätsbild” (totality picture, The Defense of the Faith, 47), Abraham Kuyper von einem “Lebenssystem” (life system, Lectures on Calvinism, 11+20-26), Al Wolters von einer “Lebensperspektive” (life perspective, Creation Regained, 2) oder “konfessionellen Vision” (confessional vision) und Herman Dooyeweerd von einem “Grundmotiv” (ground motive, The Roots of Western Culture, 9-11).

Charles Taylor nannte es Sozialimagination – “etwas, das viel breiter und tiefer ist als die intellektuellen Schemata, die die Menschen hegen, wenn sie losgelöst über die soziale Realität nachdenken” (Modern Social Imaginaries, 23f)

Nicht zuletzt bleibt der biblische Ausdruck “Kosmos”, ein Begriff, der … “nicht einfach auf alles, was es gibt, verweist, sondern ganz konkret auf die Art und Weise, wie es uns erscheint”, in dem Sinne, den wir meinen, wenn wir “meine Welt” oder “unsere Welt” sagen. (Oliver O’Donovan, Finding and Seeking, 73)

In jedem kulturellen Moment gibt es bestimmte allgemeine Festlegungen und Annahmen, die bestimmen, was Menschen sinnvollerweise denken, sagen und tun können.

In der eigenen Definition spricht Watkin von sechs Dimensionen:

  1. Sprache, Ideen und Geschichten: Die Wörter, Konzepte, Symbole und Erzählungen, die wir verwenden, um unseren Erfahrungen einen Sinn zu geben und um Muster in unserem Leben und Denken zu schaffen.
  2. Zeit und Raum: Die Art und Weise, wie wir die Zeit rhythmisieren, ist eine Reihe von Figuren, von der 24-7-Gesellschaft bis zur modernen Ideologie des historischen Fortschritts.
  3. Die Struktur der Wirklichkeit: Ob wir wie die westliche Moderne denken, dass wir in einem flachen “immanenten Rahmen” leben, in dem es nichts jenseits der Welt gibt, die wir sehen und berühren
  4. Verhaltensweisen: Kultur drückt sich in körperlichen Gewohnheiten oder “Liturgien” aus und wird von ihnen geprägt.
  5. Beziehungen: Wir strukturieren und rhythmisieren unser Leben und unsere Welt durch Beziehungen im Familien- und Freundeskreis und durch Beziehungen in sozialen Medien mit ihren eigenen Codes und Normen.
  6. Objekte: Nicht zuletzt wird unsere Welt durch die Güter und Objekte geformt, die uns umgeben.

Dabei sind die einzelnen Figuren nicht vergleichbar mit Kleidern, die wir uns an- und ausziehen, sondern “sind so etwas wie unsere Nahrung, die wir in uns aufnehmen und aus der unser Körper gemacht ist”. Jede von ihnen ist “umfassend”, aber keine von ihnen ist “erschöpfend”.

Gleichermassen prägt die Bibel als göttliche Ansprache an uns mit demselben Set an Figuren, beispielsweise:

  1. Sprache, Ideen und Geschichten: das biblische Konzept des Bundes oder wiederholte Erzählungen, die das Motiv “die Ersten werden die Letzten sein” verkörpern
  2. Zeit: der Rhythmus von Verheißung und Erfüllung
  3. Raum: die biblische Vorstellung von Gott als Herrscher über den ganzen Raum, nicht wie einer der lokalisierten Götter der alten Welt
  4. Wirklichkeitsstruktur: die biblische Unterscheidung zwischen dem Reich dieser Welt und dem Reich Gottes
  5. Verhalten: die ersten Christen, die am Tag des Herrn zusammenkommen, um zu singen, das Brot zu brechen, zu beten und belehrt zu werden
  6. Beziehungen: die Einheit aller Gläubigen in Christus und Gott als Gesetzgeber
  7. Objekte: der Ort und die Architektur der Stiftshütte oder die verfügbaren Transportmittel für die Missionsreisen des Paulus

Der Prozess der Beeinflussung beschreibt Watkin in Anlehnung an Paul Ricoeur dreifach:

  • Präfiguration: Die Welt, die ich als Leser an den Text herantrage.
  • Konfiguration: Die Art und Weise, in der der Text mit seinen eigenen Figuren an meinen vorgefertigten Erwartungen und Annahmen “herumspielt”.
  • Refiguration: Die Integration der Textwelt in die Welt des Lesers