Zitat der Woche: Ich trage die Kette, die ich während meines Lebens geschmiedet habe

Am Anfang des Klassikers «Grosse Erwartungen» von Charles Dickens (1861) berichtet der Autor von einer Begegnung des Waisenjungen Pip mit einem unheimlichen Gefesselten beim Familiengrab auf dem Friedhof. Der Fremde verlangt Lebensmittel und eine Feile für seine Fesseln. Ich zitiere aus den online verfügbaren Ausgabe:

(Kapitel 1) »Du wirst mir morgen in aller Frühe die Feile und die Lebensmittel bringen, Du wirst mir beides nach der alten Batterie hintragen. Dies wirst Du thun und Dich niemals unterstehen, ein Wort davon zu sagen, oder nur durch ein Zeichen zu verrathen, daß Du Jemand wie mich, oder überhaupt Jemand gesehen hast, und dann sollst Du am Leben bleiben. … Ich sagte, ich wolle ihm die Feile besorgen, und was ich an Lebensmitteln aufbringen könne, und ihm Beides morgen ganz früh nach der Batterie bringen.» Sag: Gott straf mich, wenn ichs nicht thue!« sagte der Mann. Ich sagte es, und dann erst setzte er mich auf die Erde. »Jetzt,« fuhr er fort, »denk an Das, wozu Du Dich verpflichtet hast, und denk an den jungen Mann, und mach, daß Du nach Hause kommst!« »Gute Nacht, Sir,« sagte ich zitternd und rannte fort. »Schöne Aussichten!« sagte er, indem er über die kalte, nasse Ebene hinschaute.

(Kapitel 3) Dies verfluchte Eisen an meinem wunden Beine! Gieb mir die Feile her, Junge.« Ich zeigte ihm die Richtung, in welcher der andere Mann in dem Nebel verschwunden war, und er blickte einen Augenblick dorthin. Gleich darauf aber kniete er auf dem nassen Grase und feilte wie ein Wahnsinniger an dem Eisen, wobei er weder auf mich, noch auf sein Bein Rücksicht nahm, welches letztere eine alte Wunde zeigte und blutig war, das er aber auf eine so rauhe Weise behandelte, als ob es nicht mehr Gefühl besessen, wie die Feile selbst. Ich fürchtete mich jetzt, da er sich in diese wüthende Hast hineingearbeitet hatte, wieder sehr vor ihm, und mir wurde auch bange, zu lange von Hause fortzubleiben. Ich sagte ihm, ich müsse gehen, doch nahm er keine Notiz von mir, und so hielt ich es fürs Beste, sachte fortzuschlüpfen. Das Letzte, was ich von ihm sah, war, wie er, den Kopf über das Knie gebeugt, heftig an seiner Fessel arbeitete, wobei er ungeduldige Verwünschungen gegen dieselbe und gegen sein Bein murmelte. Das Letzte, was ich von ihm hörte, als ich zuhorchen stillstand, war das fortwährende Kreischen der Feile.

Das Motiv der Fesseln taucht auch in «Der Weihnachtsabend. Eine Geistergeschichte.» auf, wo Scrooge Marleys totem Geist begegnet. Scrooge wird so beschrieben:

O, er war ein wahrer Blutsauger, der Scrooge! ein gieriger, zusammenscharrender, festhaltender, geiziger alter Sünder; hart und scharf wie ein Kiesel, aus dem noch kein Stahl einen warmen Funken geschlagen hat; verschlossen und selbstbegnügt und für sich, wie eine Auster. Die Kälte in seinem Herzen machte seine alten Züge erstarren, seine spitze Nase noch spitzer, sein Gesicht von Runzeln, seinen Gang steif, seine Augen rot, seine dünnen Lippen blau, und klang aus seiner krächzenden Stimme heraus. Ein frostiger Reif lag auf seinem Haupt, auf seinen Augenbrauen, auf den starken kurzen Haaren seines Bartes. Er schleppte seine eigene niedere Temperatur immer mit sich herum; in den Hundstagen kühlte er sein Comptoir wie mit Eis; zur Weihnachtszeit wärmte er es nicht um einen Grad. … Allein seinen Weg durch die gedrängten Pfade des Lebens zu gehen, jedem menschlichen Gefühl zu sagen: bleib’ mir fern, das war das, was Scrooge gefiel.

… »Du bist gefesselt,« sagte Scrooge zitternd. »Sage mir, warum?« »Ich trage die Kette, die ich während meines Lebens geschmiedet habe,« sagte der Geist. »Ich schmiedete sie Glied nach Glied und Elle nach Elle; mit meinem eigenen freien Willen lud ich sie mir auf und mit meinem eigenen freien Willen trug ich sie. Ihre Glieder kommen dir seltsam vor.«

Scrooge zitterte mehr und mehr. »Oder willst du wissen,« fuhr der Geist fort, »wie schwer und wie lang die Kette ist, die du selbst trägst? Sie war gerade so lang und so schwer, wie diese hier, vor sieben Weihnachten. Seitdem hast du daran gearbeitet. Es ist eine schwere Kette.« Scrooge sah auf den Boden herab, in der Erwartung, von fünfzig oder sechzig Klaftern Eisenketten sich umschlungen zu sehen; aber er sah nichts.

Frage: Welche Kettenglieder habe ich mir während meines Lebens geschmiedet? Wie kann ich diese erkennen? Wer kann mich davon befreien? Die Antwort der christlichen Weltsicht ist dreiteilig.

Ich empfehle übrigens die Biografie von G. K. Chesterton zu Charles Dickens. Dieser schreibt über Dickens (in Kapitel 1 «The Dickens Period»):

Was auch immer das Wort “groß” bedeutet, Dickens war das, was es bedeutet. … Er wird wie ein Klassiker behandelt, das heißt, wie ein König, der jetzt vielleicht verlassen, aber nicht entthront werden kann. … Die Menschen halten tote Menschen immer für groß und lebende Menschen für klein. … Die Welt, in der Dickens aufwuchs, war eine harte und grausame Welt.