Den Abschnitt über die Affekte bei Augustinus (Vom Gottesstaat, Buch 14, Kapitel 9) habe ich mehrmals gelesen. Er korrigiert sowohl die falsche Grundannahme eines gefühls-losen Ideals als auch den Gegenpol einer letztlich fehlgeleiteten Emotionalität.
Das rechte Ziel
(D)ie auf der irdischen Wanderschaft gottgemäß lebenden Bürger der heiligen Stadt Gottes in Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift und der gesunden Lehre kennen alle diese Regungen, Furcht, Begierde, Schmerz, Freude, und weil ihre Liebe auf das rechte Ziel gerichtet ist, so sind bei ihnen auch alle diese Regungen in der rechten Ordnung.
Gottes-fürchtiges Begehren
Sie fürchten die ewige Strafe und begehren nach dem ewigen Leben; sie empfinden Schmerz in der Gegenwart, weil sie in sich selbst noch erseufzen, die Annahme an Kindesstatt, die Erlösung ihres Leibes, erst noch erwartend; sie freuen sich in Hoffnung, weil„erfüllt werden wird das Wort, das geschrieben steht: Verschlungen ist der Tod vom Siege“. Weiter fürchten sie zu sündigen, begehren auszuharren, fühlen Schmerz ob ihrer Sünden, freuen sich an guten Werken. Die Furcht zu sündigen schöpfen sie aus dem Wort: „Weil die Ungerechtigkeit Überhand nimmt, wird die Liebe bei vielen erkalten“, und das Verlangen auszuharren aus dem Wort: „Wer ausharrt bis ans Ende, der wird selig werden“, und den Schmerz ob ihrer Sünden aus dem Wort: „Wenn wir sagen, wir hätten keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns“, und die Freude an guten Werken aus dem Wort: „Einen freudigen Geber liebt Gott“.
Furcht, Verlangen, Schmerz
Weiter — je nach ihrer inneren Schwäche oder Stärke — fürchten sie versucht zu werden oder verlangen danach; sind betrübt in Versuchungen oder freuen sich in solchen. Ihre Furcht schöpfen sie aus dem Wort: „Wenn einer von irgendeiner Sünde übereilt worden sein sollte, so überweiset ihr, die ihr geistlich seid, einen solchen im Geiste der Sanftmut, und hab acht, daß nicht auch du versucht wirst“ ; und ihr Verlangen, versucht zu werden, aus dem Worte, das ein Held des Gottesstaates spricht: „Prüfe mich, Herr, und versuche mich, erforsche mit Feuer meine Nieren und mein Herz“; und den Schmerz in Versuchungen aus dem Beispiel des weinenden Petrus, und die Freude in solchen aus den Worten des Jakobus: „Erachtet es als eitel Freude, meine Brüder, wenn ihr in mancherlei Versuchungen fallet“.
Betrübt über den Untergang anderer
Und nicht nur um ihrer selbst willen geben sie sich solchen Regungen hin, sondern auch um anderer willen, deren Erlösung sie wünschen, deren Untergang sie fürchten, und über deren Untergang sie betrübt sind, über deren Rettung sie sich freuen.
Gemütsregungen bei Jesus
Daher hat auch der Herr selber, der völlig sündelos war, während seines Erdenwallens in Knechtsgestalt sie walten lassen, wo er es für recht hielt. Und echt war die menschliche Gemütsbewegung bei ihm, der einen wirklichen Menschenleib und einen wirklichen Menschengeist an sich trug. Wenn also von ihm im Evangelium berichtet wird, daß er sich über die Herzenshärte der Juden zornig betrübte, daß er sagte: „Ich freue mich um euretwillen, damit ihr glaubet“, daß er bei der Auferweckung des Lazarus Tränen vergoß, daß er sehnliches Verlangen trug, mit seinen Jüngern das Osterlamm zu essen, daß seine Seele beim Herannahen des Leidens traurig war, so ist das natürlich nicht falsch berichtet. Vielmehr hat er solchen Regungen aus bestimmten Rücksichten Eingang verstattet in seinem menschlichen Gemüte, wenn er wollte, so gut wie er Mensch geworden ist, da er wollte.
Apatheia im Jetzt als überrealisierte Eschatologie
Ist aber ἀπάθεια dahin zu verstehen, daß eine Leidenschaft an den Geist überhaupt nicht herankommen kann, so ist sie ja der reinste Stumpfsinn, schlimmer als alle Gebrechen miteinander. Die vollkommene Glückseligkeit schließt also, so könnte man etwa sagen, wohl den Stachel der Furcht und jegliche Traurigkeit aus, aber daß es dort keine Liebe und keine Freude geben werde, kann man nur in offenbarem Widerspruch mit der Wahrheit behaupten. Ist endlich ἀπάθεια ein Zustand, worin keine Furcht schreckt und kein Leid quält, so muß man sich im gegenwärtigen Leben vor ihr hüten, wenn man recht, d. i. gottgemäß leben will; im jenseitigen glückseligen Leben allerdings, dem ewige Dauer verheißen ist, ist diese Art von ἀπάθεια ohne Einschränkung zu erhoffen. … Die keusche Furcht jedoch, die in die Weltzeit der Weltzeiten fortdauert, ist, wenn sie in der künftigen Weltzeit ebenfalls statthat (und anders kann man das Fortdauern in die Weltzeit der Weltzeiten kaum auffassen), nicht die Furcht, die vor einem Übel erschrickt, das eintreten kann, sondern eine Furcht, die festhält an einem Gute, das man nicht verlieren kann. Denn wo die Liebe zu dem erreichten Gut unwandelbar ist, da ist ohne Frage die Furcht vor dem Übel, das es zu meiden gilt, sozusagen sorglos.
Doppelter Ausgang
Das glückselige und zugleich ewige Leben aber wird zwar die Liebe in sich schließen und die Freude, beides nicht bloß auf das rechte Ziel gerichtet, sondern auch gesichert, nicht aber Furcht und Schmerz. …
Der Staat oder die Genossenschaft der nicht gottgemäß, sondern nach dem Menschen wandelnden Gottlosen dagegen, die eben infolge der Verehrung einer falschen und der Verachtung der wahren Gottheit Menschenlehren anhangen oder Lehren der Dämonen, er wird von den bezeichneten verkehrten Gemütserregungen geschüttelt wie von Fieberschauern und Stürmen.