Carl Trueman, Verfasser der wichtigen Werke “Der Siegeszug des modernen Selbst” und “Fremde neue Welt” hat an der diesjährigen E21-Konferenz einen sehr anschaulichen Vortrag “Wie sich die Bedeutung Mensch zu sein verändert hat” gehalten.
Der emotionale Ausgangspunkt für manche Christen tönt zusammengefasst so: Die grosse Versuchung für uns Christen besteht darin hoffnungslos zu werden. Es gilt Hoffnung zu fassen ohne unzulässig zu vereinfachen.
Zwei Schlüsselbegriffe werden verwendet:
- Soziales Vorstellungsschema: Unser Umgang mit der Welt fusst nicht in erster Linie auf Argumenten, sondern ist viel intuitiver. Er basiert auf Kontakten, medialen Impulsen und sozialen Gewohnheiten.
- Anerkennung: Was braucht es um ein anerkanntes Mitglied unserer Gesellschaft zu sein?Die aktuellen gesellschaftlichen Regeln widersprechen denen der Anerkennung in der Kirche immer stärker.
Um die Problematik zu verdeutlichen, unternimmt Trueman ein historisches Gedankenexperiment:
Standort 1: Köln 1248 (Beginn Bau Kölner Dom)
Lebensmerkmale: fixer Jahresablauf der agrarischen Gesellschaft; fixer Bezugsrahmen von max. 40 km; in derselben Kirche getauft, vermählt und begraben; dieselben Familien und Nachbarn; beruflicher Weg vorgegeben. Der Kampf mit der Identität existierte damals schlichtweg nicht. Die Grundsteinleger des Kölner Doms hätten nicht im Traum daran gedacht, dass es um sie selbst gehe.
Standort 2: Christoph Froschauer, Drucker und “Techguru” von Zürich im Jahr 1522. Angehöriger einer kontroversen Gilde; häretische Traktate zu veröffentlichen war ein gefährliches Leben. Die Schweizer Reformation begann mit einem Wurstessen während der Fastenzeit. Sie setzten sich über die Autorität der Kirche hinweg. Seine Männer brauchten das ganze Jahr über Kohlenhydrate, Drucken war eine anstrengende Arbeit. Froschauer, ein Städter, gewann!
Die Wirtschaft und der Lebensrhythmus einer Stadt ist vollständig anders. Der Ort wird weniger starr; der Bezugsrahmen erweitert sich (viele ziehen in die Stadt); die Zeit wird nicht mehr von den Jahreszeiten bestimmt. Die Technologie erweckte den Eindruck, dass Menschen die Kontrolle haben. Es wird möglich, einen Beruf als Gesellen bei einem Handwerksbetrieb zu lernen. Die Gemeinschaft in der Stadt ist gänzlich anders.
Beziehen wir dies auf die Frage: Wer bin ich? In Zürich des 16. Jahrhunderts ist dies viel anspruchsvoller geworden. Die Antwort beginnt von den individuellen Entscheidungen abzuhängen. Die Antwort scheint in der Reichweite eigener Kraft zu sein.
Standort 3: Hamburg im Juni 2024. Der Ortsbegriff ist sehr fluide geworden; vor 48 h war der Vortragsredner Trueman selbst noch 8000 km entfernt gewesen. Die Zeitvorstellung ist zunehmend bedeutungslos. Dank Technologie können wir vieles sofort umsetzen. In 20 Jahren hat sich im Hamburg des 21. Jahrhunderts mehr verändert als in Köln zwischen 13. und 15. Jh. Im Jahr 2000 hatte noch niemand ein Smartphone. Die Welt ist im Fluss, chaotisch. Es gibt wenige externe Konstanten, die festlegen, wer wir sind.
Das bedeutet: Wenn alles Äussere im Fluss ist, sind wir gezwungen nach innen zu schauen. Dies scheint die einzige Konstante zu sein. Hartmut Rosa meinte dazu: Die Druckerpresse führte zu 150 Jahren Konflikt in Europa und seiner Neustrukturierung. Heutzutage wird die Druckerpresse quasi jährlich neu erfunden. Wir können uns kaum an Neuerungen gewöhnen, bis die nächste hinzukommt. Wir haben das Gefühl eines konstanten Kontrollverlusts. Wir müssen ständig auf den neusten Stand kommen. Wir sind deshalb orientierungslos. Die fixen Marker entgleiten uns andauernd. Die Menschen versuchen neue Wege zu finden, um ihre Zugehörigkeit zu definieren.