Aufsatz: Kritik der Heiligungsbewegung

Ergänzend zu der vor einigen Jahren erstellte Fragenbeantwortung “Wie ist das mit der Heiligung?” habe ich aus der ausgezeichneten Kurzfassung der Dissertation (hier) von Andy Naselli zur Heiligungsbewegung (siehe dieser biografische Hintergrundbericht zu J. I. Packer) einige inhaltliche Argumente übersetzt:

Grundthese (17)

Der Zeitpunkt, zu dem Gläubige (1) die erste Erfahrung der Rechtfertigung machen und (2) mit der fortschreitenden Heiligung beginnen, ist chronologisch zu trennen.

Wesleys Heiligungs-Perfektionsimus (18/19)

John Wesley (1703-91) begründete die Lehre der christlichen Vollkommenheit (perfection), wobei er sorgfältig darauf aufmerksam machte, dass es sich dabei nicht um eine absolute, sündlose Vollkommenheit handelt. Wesley modifiziert den Begriff “Vollkommenheit” durch das Adjektiv “christlich”, um zu betonen, dass nur Christen diese Art von Vollkommenheit erfahren können, die sich von der adamischen Vollkommenheit, der engelhaften Vollkommenheit oder der einzigartigen, absoluten Vollkommenheit Gottes unterscheidet. Diese Einschränkung hängt mit Wesleys enger Definition von Sünde als “absichtliche Übertretung eines bekannten Gesetzes” zusammen. Er beschränkt “Sünde” nur auf vorsätzliche sündige Handlungen. Er räumt ein, dass “die besten Menschen” “unfreiwillige Übertretungen” begehen, für die sie der Sühne Christi bedürfen, aber solche Menschen können immer noch richtig als “vollkommen” oder “sündlos” bezeichnet werden. Wenn Sünde entsprechend definiert wird, hat Wesley nichts gegen den Begriff “sündlose Vollkommenheit” einzuwenden, aber er verzichtet darauf, ihn zu verwenden, um Verwirrung zu vermeiden.

Wesley verwendet verschiedene Begriffe, um das zweite Werk der Gnade zu beschreiben: Christliche Vollkommenheit, Errettung von aller [willentlichen] Sünde, vollständige Heiligung, vollkommene Liebe (1. Johannes 4,18), Heiligkeit, Reinheit der Absichten, volle Erlösung, zweiter Segen, zweite Ruhe und Hingabe des ganzen Lebens an Gott.

Zwei Typen des christlichen Lebens (30)

Gerechtfertigt, aber keine Krise der HeiligungGerechtfertigt und Krise der Heiligung
Faktische Rechtfertigung, Heiligung möglichFaktische und erfahrene (funktionale) Heiligung
Frei von der Strafe der SündeFrei von der Macht der Sünde
Erster SegenZweiter Segen (gefolgt von noch mehr Segnungen)
Erste PhaseZweite Phase
DurchschnittNormalität
Konstante NiederlageKonstanter Sieg
Erwartet Niederlage, überrascht vom SiegErwartet Sieg, überrascht von Niederlage
FleischlichGeistlich
Leben im FleischLeben im Geist
Nicht in Christus bleiben (abide)In Christus bleiben
Hat LebenHat Leben in grösserer Fülle
Vom Geist bewohntGeist-getauft und -erfüllt
Vom Geist bewohntVon Christus bewohnt
Christus ist RetterChristus ist Retter und Herr
GläubigerJünger
Ausserhalb der Gemeinschaft (“out of fellowship/communion”)In Gemeinschaft
“In Christus” (Position)“In Christus” (erfahrungsmässig)
Das Selbst-Leben (Römer 7)Das Christus-Leben (Römer 8)
Geistliche GefangenschaftGeistliche Freiheit
Leben der PflichtLeben der Liebe
Unruhige BesorgtheitVollkommener Friede und Ruhe
Erfahrungsmässig vor PfingstenErfahrungsmässig nach Pfingsten
Keine Kraft zum DienstKraft zum Dienst
Tugendhafte FruchtlosigkeitÜberfülle von Frucht
StagnationErneuerte Frische
SchwächeStärke
Niederes LebenHöheres Leben
Flaches LebenTieferes Leben
VersuchenVertrauen
Das Leben des Kampfes/der WerkeLeben und Ruhe des Glaubens
Das nicht übergebene LebenDas Leben in Hingabe
Das Leben, dem Segen fehltDas gesegnete Leben
Aus Ägypten erlöst, immer noch in der WüsteIm Land Kanaan
Das christliche Leben, wie es nicht sein sollteDas christliche Leben, wie es sein sollte

“Richtiges” Verständnis der Heiligung aus Sicht der Heiligungsbewegung (31/32)

1. Die Grundlage für die Heiligung ist die Einheit mit Christus. Römer 6 ist unbestreitbar der Schlüsseltext. Alle Gläubigen sind von ihrer Position aus mit Christus verbunden und haben somit die Möglichkeit, das siegreiche christliche Leben zu führen.

2. Der dreifache Charakter der Heiligung ist (1) eine (initiale) Krise, (2) ein Prozess und (3) ein Geschenk. Die erfahrungsmäßige Heiligung ist ein Geschenk, das ein Gläubiger bereitwillig annehmen muss; sie beginnt mit einer Krise der Hingabe, gefolgt von einem Prozess, ähnlich wie wenn man auf einen Zug aufsteigt (Krise) und mit ihm reist (Prozess). Die Gläubigen müssen eine Krise erleben, bevor der Prozess überhaupt beginnt, und der Aorist im Griechischen von “sich hingeben” in Römer 6 und 12 deutet auf einen einmaligen Akt der Selbsthingabe hin.

3. Das Mittel zur Heiligung ist die Aneignung der Gabe allein durch den Glauben – nicht durch Anstrengung oder Kampf.Das Schlüsselwort dafür ist “Aneignung”, und die gängigen Ausdrücke für dieses Konzept sind “Heiligung durch Glauben” und “Heiligkeit durch Glauben”. Der Unterschied zwischen der Stellung eines Gläubigen und der Aneignung dieser Stellung ist so, als ob man arm ist, obwohl man ein hohes Kontoguthaben besitzt und verweigert, sich die Schecks ausstellen zu lassen. Gott wird Gläubige befähigen, das zu tun, was er befiehlt, aber Unwissenheit schränkt Gottes Befähigung ein. Obwohl die Gläubigen nicht in der Lage sind, sich selbst zu befreien, kann auch Gott die Gläubigen nicht befreien, es sei denn, sie entscheiden sich aus freiem Willen für Gott, um sie zu befreien. Ihr freier Wille ist auch das einzige Instrument, das es Gott ermöglichen kann, sie zu befreien.

4. Das Ergebnis der Heiligung ist geistliche Kraft. Alle Gläubigen sind mit Christus verbunden, aber sie müssen sich diese geistliche Kraft durch den Glauben aneignen. Gläubige ohne die Kraft des Heiligen Geistes sind wie ein Zug ohne Motor oder wie ein Elektrowerkzeug ohne Strom.

5. Das Mittel der Heiligung ist der Heilige Geist, der dem Gläubigen Christus vermittelt. Der Heilige Geist steht im Gegensatz zu der anderen im Gläubigen wohnenden Kraft, dem Fleisch (vgl. Gal 5,16-18).

Vier gesunde Charakterzüge der Bewegung (34/35)

1. Die Theologie von Keswick bekräftigt die grundlegende protestantische Orthodoxie, einschließlich der Inspiration, Irrtumslosigkeit und Autorität der Heiligen Schrift sowie der wesentlichen Elemente des Evangeliums.

2. Die Theologie von Keswick erhebt Christus und den Glauben anstelle der Abhängigkeit von sich selbst.

3. Die Theologie von Keswick ist sehr hingebungsvoll. Viele der prominenten Befürworter der Keswick-Theologie waren aufrichtige, fromme, gottesfürchtige Männer, die über jeden Vorwurf erhaben waren.

4. Die Keswicker Theologie hat ein Vermächtnis des christlichen Dienstes. Hudson Taylor war einer der herausragendsten Auslandsmissionare der modernen Missionsbewegung.

Grundsätzliche Kritik (36-37)

  1. Grundlegende Entkopplung: Chronologische Trennung von Rechtfertigung und Heiligung, die zu zwei Kategorien von Christen führt.
  2. Alle Christen wurden geheiligt (Rechtfertigung) und werden geheiligt (fortlaufend).
 RechtfertigungProgressive Heiligung
QualitätAugenblicklich für gerecht erklärtGraduell gerecht gemacht
 Objektiv, gerichtlich (erfahrungs-unabhängig); forensische PositionSubjektiv, erfahrungsbezogen (tägliche Erfahrung)
 External: ausserhalb des GläubigenInternal: im Gläubigen drin
 Gerechtigkeit von Christus eingepflanzt, rechtmässig (judicially) empfangenGerechtigkeit von Christus vermittelt, erfahrungsbezogen ausgelebt
 Sofortige Beseitigung von Schuld und Bestrafung der SündeGraduelle Beseitigung der Verschmutzung und Macht der Sünde
 Keine Veränderung des CharaktersGraduelle Veränderung des Charakters
QuantitätAlle Gläubigen teilen dieselbe rechtliche Stellung.Gläubige stehen in unterschiedlichen Phasen des Wachstums
DauerEinziger, sofortiger, vollendeter Akt: einmalig, nie wiederholtKontinuierlicher Prozess: graduell, reifend, lebenslang

Heiligung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

  1. Initiale Heiligung (zeitgleich mit Rechtfertigung und Wiedergeburt): Setzt den Gläubigen von dessen Position her vom alten Menschen in Adam ab (Röm 6; Apg 20,32; 26,18; 1Kor 1,2; 6,11; Hebr 10,10+14)
  2. Fortschreitende Heiligung setzt den Gläubigen von der Macht und Gewohnheit der Sünde ab (Joh 17,17; 2Kor 3,18; Phil 1,6).
  3. Finale Heiligung setzt den Gläubigen von der Präsenz und Möglichkeit der Sünde ab (Röm 8,29f; Phil 3,21; 1Thess 3,12f; Judas 24)

Weitere Argumente

  • Alle Christen sind geistlich, keine permanent fleischlich (1Kor 2,6 – 3,4)
  • Alle Christen sind bei der Wiedergeburt vom Geist getauft (1Kor 12,13)
  • Alle Christen bleiben in Christus – in unterschiedlichen Graden (Joh 15,1-10; 2Joh)
  • Alle Christen sind geisterfüllt – in unterschiedlichen Graden (Eph 5,18)
  • Fortschreitendes Abtöten des alten Menschen (Eph 4,22-24)
  • Heiligung beinhaltet einen lebenslangen Kampf (Gal 5,16-26).
  • Der Wille des Gläubigen ist nicht autonom frei.
  • Überbetonung praktischer Heiligkeit auf Kosten von biblischer Lehre
  • Untergräbt die Lehren der Heilsgewissheit und des Durchhaltevermögens (perseverance)
  • Künstliche “Formel” zur sofortigen Heiligung
  • Selbst-zentriertes Verfolgen erfahrungsmässiger Befriedigung
  • Abhängigkeit von Erfahrungen und speziellen Veranstaltungen
  • Gefahr einer Elitenbildung
  • Gefahr der Desillusionierung und der Frustration
  • Gefahr der Fehlinterpretation persönlicher Erfahrungen