Input: Das Spektrum des Evangelikalismus

Es gibt wiederholt Debatten darüber, was der Begriff “evangelikal” umfasst. 2011 erschien in der Counterpoint-Serie “Four Views on the Spectrum of Evangelicalism”. Auch wenn das Buch die US-amerikanische Entwicklung widerspiegelt, ist die Einordnung hilfreich. Die von David Bebbington 1989 vorgetragene Definition wird natürlich aufgegriffen (zit. S. 73):

There are the four qualities that have been the special marks of Evangelical religion: conversionism, the belief that lives need to be changed; activism, the expression of the gospel in effort; biblicism, a particular regard for the Bible; and what may be called crucicentrism, a stress on the sacrifice of Christ on the cross. Together they form a quadrilateral of priorities that is the basis of evangelicalism. (David W. Bebbington, Evangelicalism in Modern Britain: A History from the 1730s to the 1980s (London: Routledge, 1989), 2–3.)

  • Bekehrung: die Überzeugung, dass das Leben verändert werden muss
  • Aktivismus: Bemühung, ausgelöst durch das Evangelium
  • Bibel: Besondere Wertschätzung der Bibel
  • Ausrichtung auf das Kreuz: Betonung von Jesu Opfer am Kreuz

Die vier vorgestellten Positionen werden in dieser Besprechung adäquat zusammengefasst.

Fundamentalism durch Kevin Bauder (* 1955)

Bauders Position lässt sich am besten als kritischer Fundamentalismus beschreiben, da er sich nicht nur von den Evangelikalen auf breiter Basis, sondern auch von der populistischen Erweckungsbewegung und Hyperfundamentalismus abgrenzt. Das Wesen des Fundamentalismus ist demnach nicht die Reinheit, sondern die Einheit und Gemeinschaft der Kirche. Eine solche Einheit basiert zumindest auf dem Evangelium selbst (d. h. schuldige Sünder, denen durch die Gnade Gottes durch das Werk des menschgewordenen Sohnes vergeben wurde, dessen Tod am Kreuz stellvertretend für sie gesühnt hat). Sie bringt auch Grenzen für die Gemeinschaft mit denjenigen mit sich, die sich als Christen bekennen. Zu diesen Grenzen gehört die Trennung ersten Grades von denen, die das Evangelium leugnen (d.h. Katholiken) und ein gewisses Maß an Trennung zweiten Grades von denen, die mit denen zusammenarbeiten, die das Evangelium leugnen. 

Confessional Evangelicalism durch Albert Mohler (* 1959)

Evangelikal ist ein entscheidender Begriff, der hilft, ein Segment von Christen zu definieren, die weder römisch-katholisch noch protestantisch-liberal sind. Dennoch zeigt die Untersuchung des Evangelikalismus aus historischer, phänomenologischer und normativer Sicht, dass der Begriff allein nicht ausreicht, um eine solche Gruppe zu ordnen. Mohler schätzt zwar Bebbingtons berühmtes Viereck, stellt aber auch fest, dass Katholiken, Liberale und Mormonen es nur allzu leicht für sich vereinnahmen können. Sein Aufruf zu einem konfessionellen Evangelikalismus beruht zum Teil auf der Durchführung einer theologischen Triage”, bei der sich Evangelikale über theologische Fragen erster Ordnung (wie die Dreieinigkeit, die Gottheit Christi, die Rechtfertigung allein durch den Glauben und die volle Autorität der Heiligen Schrift) einigen können, während sie sich gleichzeitig weigern, sich über tertiäre Fragen (z. B. Feinheiten der Eschatologie) zu streiten. Die sekundären Fragen, die normalerweise zu konfessionellen Unterscheidungen führen (z. B. Fragen der Taufe), ruhen in einem solchen Bekenntnismodell nicht, aber sie führen auch nicht zu weiteren Spaltungen unter den Brüdern und Schwestern in Christus. 

Generic Evangelicalism durch John Stackhouse (* 1960)

Seine Vorstellung von einem allgemeinen Evangelikalismus schließt nicht nur offene Theisten ein, sondern auch einige, die sich von der stellvertretenden Sichtweise des Sühneopfers abgewendet haben. Damit will er nicht sagen, dass solche Ansichten richtig sind, denn Menschen, die diese Positionen vertreten, können gleichzeitig wirklich evangelikal und wirklich irrend sein. Stackhouse’ Nuancierung ist nicht als Doppelsinn zu verstehen. Er ist vorsichtig genug, um die evangelikale Tür für diejenigen zu schließen, die entweder (1) wenig mit dem orthodoxen Christentum gemein haben oder (2) Bebbingtons Viereck nicht unterschreiben. Aber er argumentiert, dass es im evangelikalen Lager immer Raum für eine Besserung gibt. Dieser Weg kann sogar in beide Richtungen führen, wobei diejenigen, die am Rande stehen, letztendlich einen positiven Beitrag zur größeren evangelikalen Familie leisten können.

Post-Conservatism durch Roger E. Olson (* 1952)

Die Voraussetzung für seinen postkonservativen Evangelikalismus ist, dass der Evangelikalismus eine Bewegung – und keine Organisation – ist und als solche keine definierbaren Grenzen aufweist. Olson ist sich bewusst, dass seine Gegner ihm vorwerfen werden, er verfolge eher einen soziologischen als einen theologischen Ansatz. Er besteht jedoch darauf, dass die theologischen Überzeugungen der Evangelikalen soziologisch bedingt sind: “Wer kann schon sagen, welche Theologen und konfessionellen Aussagen für Evangelikale historisch normativ waren?” (S. 166). Olson glaubt, dass der historische Evangelikalismus ein definierbares Zentrum besitzt, argumentiert aber, dass das Bebbington-Viereck in jedem Punkt genügend Raum für Vielfalt lässt. Er fügt daher ein fünftes Kriterium hinzu: Achtung der historischen, christlichen Orthodoxie. Olson behauptet, dass dieser Zusatz eine notwendige Verbindung zu den frühen Kirchenvätern und den Reformatoren herstellt, aber er nutzt diesen Zusatz auch, um zu veranschaulichen, wie Christen im Laufe der Jahrhunderte Schlüssellehren nuanciert haben, und beweist damit die fortwährende Notwendigkeit eines evangelikalen Spielraums.

Vier kritische Themen

Albert Mohler – dem ich inhaltlich nahe stehe – erkennt in den drei aktuellen Themen Autorität der Bibel, offener Theismus und dem stellvertretenden Sühneopfer von Jesus exemplarische Bedeutung, an denen sich die Frage der evangelikalen Identität entscheiden wird.

Autorität der Bibel: Die Bejahung der absoluten Wahrhaftigkeit, Vertrauenswürdigkeit und Autorität der Bibel ist eine theologische Frage ersten Ranges. Ohne ein uneingeschränktes Vertrauen in die Bibel als das geoffenbarte Wort Gottes haben wir keine Möglichkeit zu wissen, was das Evangelium ist und was wir glauben und lehren sollen. (91)

Exklusivität des Evangeliums: Revisionistische und reformorientierte Evangelikale haben die Exklusivität des Evangeliums abgelehnt. Die meisten plädieren für eine Form des Inklusivismus, wonach Christus in irgendeiner Weise durch nichtchristliche Offenbarung erscheint und heilsbringend wirkt. Einige plädieren jedoch für etwas, das man nur als eine Form des Universalismus bezeichnen kann. Das Evangelium von Jesus Christus ist eine theologische Frage erster Ordnung, und die Bejahung dieses Evangeliums erfordert die ausdrückliche Anerkennung, dass es, wie es im Lausanner Übereinkommen heißt, “nur einen Erlöser und nur ein Evangelium gibt”. (92)

Offener Theismus: Einige haben Gottes vollständiges Vorherwissen geleugnet. Im Namen des “Theismus der schöpferischen Liebe” und der “Offenheit Gottes” haben die Vertreter des offenen Theismus argumentiert, dass Gott einfach nicht wissen kann, was nicht gewusst werden kann, und dazu gehören auch die zukünftigen Entscheidungen seiner freien Geschöpfe. Natürlich erfordert der offene Theismus auch, dass man die Kontingenz in das Verständnis von Gottes Mitteln und der Art und Weise, wie er mit seiner Schöpfung umgeht, einbezieht. Es sind also nicht nur die zukünftigen Entscheidungen der Menschen, die nicht bekannt sein können, sondern auch die Zufälligkeiten des Kosmos, die sowohl mit diesen Entscheidungen zusammenhängen als auch davon unabhängig sind. (93)

Sühneopfer: Wenn evangelikal etwas bedeutet, dann die mutige Behauptung, dass Sünder nur auf der Grundlage dessen gerechtfertigt sind, was die Reformatoren eine fremde Gerechtigkeit nannten – die Gerechtigkeit Christi, die allen, die an ihn glauben, zugerechnet wird. (94)

Zwei Fraktionen

Die letzten Jahre haben auch im deutschsprachigen Raum gezeigt, dass im Prinzip zwei Strömungen innerhalb des Evangelikalismus zu unterscheiden sind. Andy Naselli weist im Schlussteil des Buches darauf hin (214):

Die Ansichten 1 und 2 (Fundamentalismus und konfessioneller Evangelikalismus) liegen nahe beieinander, ebenso die Ansichten 3 und 4 (generischer und postkonservativer Evangelikalismus) Der Abstand zwischen den Ansichten 1-2 und 3-4 ist deutlich größer als zwischen den Ansichten 1 und 2 oder 3 und 4.

Mohler stimmt mit Olsons Einschätzung überein, dass der Evangelikalismus derzeit “in zwei Fraktionen oder sogar zwei rivalisierende Bewegungen” (199) gespalten ist – was Olson als “Fundamentalisten und Neo-Fundamentalisten auf der einen Seite und gemäßigte bis progressive Evangelikale auf der anderen Seite” beschreibt.