Input: Bavincks wissenschaftliche Theologie als Meta-Paradigma

Ich lese bedächtig und konzentriert durch die 2022 erschienene Dissertation “Theology As the Science of God: Herman Bavinck’s Wetenschappelijke Theology for the Modern World” von Ximian Xu (Edinburgh).

Seine Arbeit steht im Gefolge anderer Dissertation:

Xu beschreibt sein Forschungsgebiet so:

Indem ich mich auf Bavincks Konzeption der wetenschappelijke (niederländisch für „wissenschaftlichen“) Theologie konzentriere, werde ich argumentieren, dass Bavinck die Dogmatik bei der Entwicklung der Theologie als Wissenschaft von Gott seit Beginn seines Schaffens methodologisch mit einer einzigartigen trinitarischen Grammatik konstruiert, die fünf Begründungen in Verkettung aufweist – nämlich positiven Offenbarungsbezug (positive revelationalism), theologisch-organisches Verständnis (theological organicism), kritischen Realismus, dialektische Katholizität und doxologische Teleologie. Diese eigenständige Grammatik von Bavincks wissenschaftlicher Theologie führt zu seinem Beharren auf dem Platz der Theologie in der Akademie (und nicht nur in einem privaten Seminar), was für die Rechtfertigung der christlichen Theologie an der Universität des 21. Jahrhunderts von Bedeutung ist. So könnte der Begriff der wetenschappelijke Theologie als hermeneutisches Meta-Paradigma für das Verständnis von Bavincks System verwendet werden. Insbesondere seit Eglintons neuer Lesart sind zahlreiche grundlegende Aspekte von Bavincks Theologie erforscht worden, wie die Trinitätslehre, die Christologie und die Offenbarungslehre. Diese Themen können einige Paradigmen für die Interpretation von Bavincks dogmatischem System bieten. Zum Beispiel hat sich ein organisches Auslegungsparadigma entwickelt. Ob es jedoch einen Apparat gibt, der mit unterschiedlichen Paradigmen umgehen kann, muss noch erforscht werden. Ein solcher Apparat kann einen einheitlichen Bavinck besser darstellen, indem er verschiedene theologische Themen gut miteinander verbindet. Diese Studie sucht nach dem Meta-Paradigma, was bedeutet, dass die Idee der wissenschaftlichen Theologie, wie sie in dieser Studie erläutert wird, einen solchen Apparat liefert, der verschiedene grundlegende Merkmale und Themen von Bavincks Denken koordiniert, um ein Gesamtbild seiner dogmatischen Theologie zu entwerfen. Darüber hinaus wird durch die Analyse des Konzepts der wissenschaftlichen Theologie deutlich werden, wie Bavinck seine Dogmatik in seiner Auseinandersetzung mit der modernen Theologie, Kultur und Wissenschaft entwickelt. (32)

Über die Entwicklung der Lehre einer wissenschaftlichen Theologie bis Bavinck fasst Xu zusammen:

Obwohl Augustinus die scientia (Wissenschaft) als relevant für das Zeitliche und die sapientia (Weisheit) für das Ewige qualifizierte, erkannte er, dass die Inkarnation (Menschwerdung) sowohl die Wissenschaft als auch die Weisheit erforderlich macht. Darüber hinaus ist scientia das Mittel, mit dem sich das menschliche Wissen auf die sapientia als telos (Ziel) zubewegt. Sowohl das Ziel als auch die Mittel, die zu diesem Ziel führen, sind für Augustinus von Bedeutung. (…)

Thomas von Aquin (1225-1274) erklärte, dass ‘die heilige Lehre eine Wissenschaft ist, weil sie von Grundsätzen ausgeht, die im Licht einer höheren Wissenschaft, nämlich der Wissenschaft von Gott und den Seligen, aufgestellt wurden’. In diesem Sinne ist die Theologie eine subalterne Wissenschaft, die von einer höheren Wissenschaft abgeleitet ist. Trotz des subalternen Status argumentierte Aquin, dass ‘andere Wissenschaften die Mägde dieser Wissenschaft genannt werden’. (…)

(nach der Reformation) Die Theologie als scientia ist nicht deduktiv in dem Sinne, dass das erste Prinzip die Grundlage für die Schlussfolgerung ist. Stattdessen ist die Theologie die scientia des ‘seligen Lebens in Ewigkeit’. Außerdem lässt sich die Theologie als Wissenschaft nicht in Aristoteles’ Paradigma von intelligentia, scientia, sapientia, prudentia und ars einordnen, da ‘das orthodoxe Zögern, die Theologie genau mit irgendeiner menschlichen Disziplin gleichzusetzen, ihren Systemen erlaubte, für Formen und Muster des Wissens offen zu bleiben’.

… Indem sie thomistische Begriffe übernahmen, importierten die reformierten Scholastiker die Begriffe der archetypischen (ursprünglichen) und ektypischen (albbildhaften) Theologie, um den Standpunkt zu verteidigen, dass die ersten Prinzipien der subalternen Wissenschaft aufgrund der ektypischen Erkenntnis Gottes als geoffenbarte archetypische göttliche Erkenntnis selbstverständlich sind.

… Als niederländischer reformierter Theologe nahm Bavinck an dem reformierten Erbe der Theologie als scientia teil. Es ist bemerkenswert, dass Bavinck zu Beginn seiner Karriere die sechste Ausgabe der Synopsis of a Purer Theology (engl. wieder aufgelegt 2015, meine Ergänzung) herausgab. Er wandte sich der Synopsis zu, um sich mit der reformierten Orthodoxie vertraut zu machen, da er an der Universität Leiden nicht genug darüber gelernt hatte. … (Dies) zeigt Bavincks Ehrgeiz, „ein wissenschaftlicher Theologe“ zu sein. Daher ist es nicht überraschend, dass Bavinck sich bei der Konstruktion seines eigenen Systems stark auf diesen Aspekt seines Erbes stützte. In diesem Licht kann man sagen, dass die Idee der Theologie als scientia Gottes, wie sie in der Synopse dargestellt wird, als ein Ausgangspunkt für die Entwicklung von Bavincks wissenschaftlicher Theologie diente. (33-34)