Roland Reichenbach (* 1962) in der NZZ am Sonntag vom 18. August 2024:
Die Schule ist ein Ort der emotionalen Vielfalt. Fast jeden Tag erlebt man hier das ganze Gefühlsspektrum, von Erfolgs- und Glücksmomenten bis zur Angstattacke und wieder zurück. Vor einigen Jahren wurden Berufsleute aus allen Branchen nach dem subjektiven Erleben ihres Alltags befragt. Dabei zeigte sich, dass Lehrpersonen ihren Beruf als am wenigsten langweilig erlebten. Ironisch nur, dass Schülerinnen und Schüler manchmal sehr unter Langeweile leiden. …
Wir erleben in der westlichen Welt zwei grosse Umwälzungen: eine Krise des Gemeinsinns und eine Krise der Autorität. Vor allem letztere trifft den Lehrerberuf im Kern. Denn wir wissen, wie wichtig die Autoritätsanerkennung der Lehrperson durch die Schülerinnen und Schüler sowie durch deren Eltern für die Anstrengungsund Lernbereitschaft ist. Doch die personale Autorität wurde weitgehend durch anonyme, unpersönliche Formen der Autorität ersetzt. …
Vom Lehrplan zum konkreten Lernprozess führt keine gerade Linie. Der Lehrplan ist ungeeignet, um das Bildungssystem nach Gusto zu steuern. Die kontrollierte Steuerung des Bildungssystems ist letztlich eine Illusion. …
(G)erade leistungsschwächeren Kindern schaden solche offenen Lernformen – das ist meine Meinung, aber damit bin ich zum Glück nicht allein. Diese Kinder brauchten mehr Kontrolle, Anweisung und Ermutigung. Am Ende zementiert das scheinbar individualisierte Lernen bereits bestehende Leistungsunterschiede. …
(John) Hattie zeigte vor allem, dass viel Kontrolle, viel Feedback, viel Ermutigung wichtig sind. Und üben, üben, üben . . . So ist es! Gute Beispiele sind Freizeitaktivitäten wie Sport oder Musik.
Ergänzend aus einem weiteren Interview (Februar 24):
(E)s gibt eine Krise des Gemeinsinns und eine Krise der Repräsentation. Es ist den Eltern kaum mehr klar, wofür sie eigentlich einstehen sollen und wofür die Schule steht. Das hat zu tun mit der modernen Bewegung hin zum Individuum, hin zur an sich ja großartigen Bedürfnisorientierung. In deren Engführung sieht man plötzlich nur noch das Individuum, das Kind, das Hirn. …
Zur Mitte des 20. Jahrhunderts war die autoritäre Erziehung als ein Problem gefunden. Autorität in der Erziehung galt als schlecht. Demgegenüber gestellt ist bis heute, das werden Sie in allen möglichen Leitlinien und Bildungskonzepten finden, die gute “demokratische Erziehung”. …
Es gibt manche Kinder und Jugendliche, die muss man eng führen. Man muss sie aber auch ermutigen, und man muss sie strenger kontrollieren. Und das tönt für moderne pädagogische Ohren überhaupt nicht attraktiv. …
In einer hochflexiblen, hoch veränderlichen Arbeitswelt ist es für Arbeitgeber auch von Vorteil, wenn die Angestellten gar nicht wissen, was sie eigentlich wollen; dieser passive Nihilismus ist somit funktional, es handelt sich dabei um eine kulturell adaptive Identitätsdiffusion. Das heißt, die Leute haben sich daran gewöhnt, dass sie in einer Art Krise sind, nicht wissen, wohin die Reise geht, und das verläuft relativ störungsfrei, ohne Leiden.
Heute wollen Führungspersonen, Lehrpersonen, auch Professoren von ihren Studierenden oder Mitarbeitern geschätzt, am besten noch geliebt werden. Das ist eine Krankheit, die habe ich auch ein bisschen, auch als Vater von vier erwachsenen Kindern. Man möchte geschätzt werden, aber das ist vielleicht nicht so gut.