Die naturalistische Sicht auf Welt und Leben, unwahrscheinlich scharf skizziert von Carl F. Henry (in “God, Revelation and Authority”, 135-140):
Die Überzeugung, dass die Natur die umfassendste und tiefste Umgebung des Menschen ist, beherrscht heute praktisch die gesamte westliche Geisteswelt. …
Der radikal-säkulare Mensch lässt keine Alternative zu einer naturalistischen Erklärung der gesamten Wirklichkeit zu. Er lehnt es daher ab, sich dem gegenkulturellen Appell an eine innere Welt der Entscheidung und Transzendenz anzuschließen oder sich mit sozialen Aktivisten zu verbünden, die sich auf so genannte praktische Dinge konzentrieren und dabei Fragen der Ontologie und Epistemologie ausweichen.
Da die empirische Wissenschaft als der zuverlässigste Index für die letztendliche Realität gilt, wird die von ihr anerkannte Sicht der Existenz, nämlich dass die Welt und der Mensch Nebenprodukte unpersönlicher Kräfte und Ereignisse darstellen, als verständlicher angesehen als Projektionen, die menschliche Werte in einem unsichtbaren spirituellen Kontext begründen oder verankern. Nur was wissenschaftlich erforschbar ist, hat rationale Bedeutung.
Die säkulare Weltanschauung postuliert das Sein und die Bestimmung des Menschen allein im Hinblick auf endliche Kräfte, die Verflechtung aller kosmischen Prozesse und die Relativität aller historischen Ereignisse. … Keine objektiv gegebene Ordnung der Wirklichkeit scheint gänzlich unempfindlich gegen seine Manipulation zu sein; die Technologie hat ihn in die Lage versetzt, seine einst scheinbar unkontrollierbare Umwelt so umzugestalten, dass sie seinen eigenen Interessen und Wünschen dient.
In einer Welt ohne objektiven Grund und Zweck braucht der Mensch autonome Freiheit, um seinen eigenen Sinn und seine eigene Sicherheit zu schaffen und wiederherzustellen. … Er hat den Gott der Schöpfung vertrieben und lehnt eine ewig gegebene Sinn- und Wertordnung für die geschöpfliche Wirklichkeit ab, indem er alle Existenz, das Leben, die Wahrheit und den Wert in einen Kontext stellt, der völlig bedingt und vorläufig ist.
Die säkulare Theorie der vollständigen Zufälligkeit (comprehensive contingency), d.h. des lediglich vorläufigen Charakters aller Wirklichkeit, lässt keine transzendente Dimension der Existenz zu. … Es gibt keinen entscheidenden Grund für das Universum und den Menschen, keinen ultimativen Plan oder Entwurf, keine Verantwortlichkeit der Kreatur gegenüber ursprünglichen Strukturen von Kohärenz und Werten, keinen transkosmischen Anker für menschliche Belange.
Mit der Kontingenz verbunden ist die moderne Auffassung von der totalen Vergänglichkeit der Wirklichkeit und der Erfahrung. Beteuerungen der göttlichen Ewigkeit, des ewigen Lebens und der überzeitlichen Eschatologie werden als unbegründet abgetan. … Offenheit für die Zukunft wird im Sinne von Möglichkeiten historischer – insbesondere gesellschaftspolitischer – Veränderungen verstanden.
Die säkulare Weltanschauung setzt sich für die radikale Relativität oder Verflechtung (interrelatedness) des gesamten historischen Prozesses ein. Sie bekräftigt die Relativität aller Wahrheiten, Werte und Ereignisse gegenüber ihrem wechselnden kulturellen Kontext und ihrer historischen Situation. … Nicht nur werden alle Weltreligionen und philosophischen Systeme als relativ zum historischen Prozess betrachtet, sondern auch die Kategorien der Vernunft, der Moral und der Schönheit selbst werden als historisch relativ angesehen.
(Dazu kommt) die absolute Autonomie des Menschen. Der Mensch bleibt allein, selbstgenügsam und autonom, um den Kosmos aus der Absurdität und Wertlosigkeit zu retten. Kein göttlicher Souverän stellt das menschliche Leben unter unveränderliche Befehle, keine göttliche Offenbarung sagt dem Menschen, was wahr und vertrauenswürdig ist.