Autorenhinweis: Toxische Empathie

Durch ein kürzliches Interview mit Albert Mohler wurde ich auf die Influencerin und Autorin Allie Beth Stuckey aufmerksam (Bio). Sie ist Jahrgang 1992, Mutter von drei Töchtern und repräsentiert das Segment politisch konservativer Millenials. In einer Rede von 2017 (ab Minute 3) findet sie klare Worte

  • zur abgelenkten Generation (kurze Aufmerksamkeitsspanne)
  • die sich selbst laufend im Bild fixiert (Selfies)
  • und Commitment (Verbindlichkeit) scheut 
  • sowie religiöse und andere Institutionen verlässt

Sie beobachtet folgende fünf “rote Flaggen” (red flags) unter Evangelikalen, wobei das fünfte aus meiner Sicht am beunruhigendsten ist (in “Toxic Empathy”, S. XXXVI):

  1. Euphemismen: Euphemismen verschleiern die Wahrheit, um eine Position schmackhafter zu machen. Denken Sie an „reproduktive Rechte“ für die Tötung eines ungeborenen Kindes oder an „geschlechtsangleichende Pflege“ für Körperverstümmelung. 
  2. Widersprüche zu Gottes Wort: Denken Sie an „Christen sind aufgerufen, den Fremden zu lieben“, um chaotische Grenzgesetze zu rechtfertigen, oder „Die frühe Kirche teilte alles, was sie hatte“, um den Sozialismus zu rechtfertigen.
  3. Genuin politische Ziele: Wenn zu Empathie, Inklusivität und Liebe aufgerufen wird, spricht man dann darüber, wie wir diese Menschen als Individuen behandeln, oder geht es in Wirklichkeit darum, bestimmte politische Ziele zu erreichen?
  4. Christlich klingende Begriffe mit anderem Inhalt: Die Begriffe Gleichheit, Gleichberechtigung, Befreiung, Unterdrückung, Inklusion und soziale Gerechtigkeit finden sich alle in irgendeiner Weise in der Bibel wieder, aber die Bibel definiert sie anders als progressive Aktivisten dies tun.
  5. Emotionalisierte Sprache: In der manipulativen Rhetorik fehlt es an stichhaltigen, logischen Argumenten, und sie wird durch die Forderung ersetzt, dass man eine bestimmte Art von Gefühlen hat. Wenn Sie wirklich liebevoll, fürsorglich, verständnisvoll, einfühlsam usw. sind, werden Sie sich auf eine bestimmte Position einlassen. Oft werden Ihre rationalen Argumente mit dem Vorwurf der Gefühllosigkeit zurückgewiesen, anstatt mit durchdachten Antworten.

Sie fasst dieses Phänomen im Begriff “toxische Empathie” (im gleichnamigen Buch, S. XI – XIII):

(klassische Definition) Sie können die Lage einer anderen Person – ihre Sichtweise, Gefühle und Bedürfnisse – besser verstehen, wenn Sie selbst erlebt haben, was sie erlebt hat. Auch wenn Sie nicht dasselbe durchgemacht haben, können Sie versuchen, sich den Schmerz der anderen Person vorzustellen und Hilfe anzubieten. Die Fähigkeit, sich in die Lage einer anderen Person hineinzuversetzen – ob man nun eine ähnliche Erfahrung gemacht hat oder nicht – wird üblicherweise als „Empathie“ bezeichnet. Nach dieser Definition ist Empathie eine starke Motivation, die Menschen um uns herum zu lieben. Sie schließt ungerechte Kritik und Anmaßung aus und motiviert uns, Menschen zu helfen, die es brauchen.

… Doch Empathie allein ist ein schlechter Ratgeber. Sie mag ein Teil dessen sein, was uns inspiriert, Gutes zu tun, aber sie ist nur ein Gefühl und wie alle Gefühle sehr anfällig für Manipulation. Genau das geschieht heute. Empathie wurde zu dem Zweck missbraucht, wohlmeinende Menschen an bestimmte politische Ziele anzupassen. Insbesondere wurde sie vom progressiven Flügel der amerikanischen Gesellschaft vereinnahmt, um die Menschen davon zu überzeugen, dass die progressive Position ausschließlich die der Güte und Moral ist.

… Einfühlungsvermögen und Freundlichkeit sind jedoch keine Synonyme, ebenso wenig wie Einfühlungsvermögen und Mitgefühl. Freundlichkeit beschreibt, wie wir jemanden behandeln, entweder in Worten oder in Taten. Mitgefühl bedeutet, mit jemandem zu leiden, der sich abmüht. Sowohl Freundlichkeit als auch Mitgefühl sind notwendige Bestandteile der Liebe. Aber Einfühlungsvermögen bedeutet wörtlich, dass man sich in die Gefühle einer anderen Person hineinversetzt. Einfühlungsvermögen an sich ist weder liebevoll noch gütig; es ist nur ein Gefühl. Liebe hingegen ist eine bewusste Entscheidung, das Gute für einen anderen Menschen zu suchen. Die irrtümliche Verquickung von Liebe und Einfühlungsvermögen hat die Massen davon überzeugt, dass wir, um liebevoll zu sein, genauso fühlen müssen wie sie. Toxische Empathie besagt, dass wir nicht nur ihre Gefühle teilen, sondern ihre Gefühle und Entscheidungen als gültig, gerechtfertigt und gut bestätigen müssen. Diese Verwirrung hat uns nicht nur zu einem moralisch verlorenen Volk gemacht, sondern auch genau den Menschen geschadet, denen die Empathieverfechter angeblich helfen wollen: den wirklich Ausgegrenzten und Schwachen.

Albert Mohler erklärt aus dieser Perspektive über die Ausdrucksweise “Abtreibung als Grundrecht” (Minuten 6-8):

Es hat in diesem Zusammenhang wirklich zwei Bedeutungen. (Die erste Bedeutung) … jede Einschränkung dieser Rechte muss einen außerordentlichen rechtlichen Standard erfüllen, um Bestand zu haben. Ein Grundrecht wie zum Beispiel  Meinungs- bzw. Pressefreiheit erfordert eine extrem genaue Prüfung durch die Gerichte, um zu sehen, ob eine Einschränkung möglich ist. 

Die zweite Bedeutung von Grundrecht: Etwas, das die Regierung nicht schafft. Dies findet sich bereits in unseren Gründungsdokumenten, wie etwas das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück. Dies sind unveräußerliche Rechte. Das bedeutet, … dass es bestimmte menschliche Rechte … gibt, die die Regierung nicht schafft, sondern nur anerkennt und sich bereit erklärt, sie zu achten. Das ist lächerlich, wenn es um Abtreibung geht. Es gibt keine Gesellschaft in der ganzen Menschheitsgeschichte, die irgendwie zu der Behauptung gekommen ist, dass Abtreibung ein unveräußerliches Grundrecht wäre. 

Alisa Childers, Autorin von “Ankern: Eine Verteidigung der biblischen Fundamente in postmodernen Gewässern” sowie “Leb deine Wahrheit und andere Lügen: Typische Täuschungen, die unser Leben in die Enge treiben”, stellt in einem aktuellen Podcast heraus, wie sie Beth Stuckey besonders schätzt (Minuten 9-11): Das Sichtbarmachen der

Aufteilung (compartmentalization), die Christen so vornehmen – wie wir nämlich unsere Ethik auseinander dividieren: (Da gibt es die) von unserer Politik, (eine andere) von unserer Theologie und (wieder eine andere) davon, wie wir über Kultur denken. … Weshalb ist es (für dich Allie) so entscheidend eine Gesamtsicht zu haben das schließt natürlich die Kultur ein, ebenso Politik, aber auch Elternschaft oder zwischenmenschliche Beziehungen. Das bedeutet nicht, dass sich alle diese Dinge auf der gleichen Ebene befinden oder die Bibel eindeutige Antworten auf alle Feinheiten bereithält. Es geht jedoch um Kategorien; biblische Prinzipien sollten uns dabei leiten, wie wir über all diese Dinge denken.

Anmerkung zum letzten Zitat: Es muss dringend zwischen fundamentalen Kategorien (wie der Schöpfungsordnung) und anderen Ebenen unterschieden werden. Ebenso missverständlich wie eine Trennung in unterschiedliche Lebensbereiche kann die Vermischung bzw. Gleichsetzung sein. Als Theologe spreche ich von “unterscheiden statt trennen oder vermischen”.