Vor einiger Zeit habe ich über die unterschiedliche Rezeption von Thomas von Aquin innerhalb evangelikal-reformierter Kreise berichtet. In jüngster Zeit lässt sich eine gewisse Renaissance von Thomas von Aquin feststellen, verbunden mit einer grösseren Wertschätzung der natürlichen Theologie. Das Panel “Why I believe in Natural Theology” bringt die Argumente zusammen (KI-unterstützt):
1. Definition und Bedeutung der natürlichen Theologie
- Definition: Natürliche Theologie befasst sich mit dem, was der menschliche Verstand über Gott ohne spezifische Offenbarung erkennen kann. Sie basiert auf der allgemeinen Offenbarung durch die Natur und ist allen Menschen zugänglich, unabhängig von Glaubensüberzeugungen.
- Biblische Grundlage: Texte wie Psalm 19 („Die Himmel erzählen die Ehre Gottes“) und Johannes 1 verdeutlichen die Präsenz eines Logos, also einer Rationalität oder Vernunft, die der Welt zugrunde liegt.
- Geschichte: Die christliche Tradition, beginnend mit den Kirchenvätern wie Justin Martyr, hat stark auf die Philosophie Platons und Aristoteles’ zurückgegriffen, um metaphysische Grundlagen für Gottes Existenz und Eigenschaften zu formulieren.
2. Die Krise der natürlichen Theologie in der Moderne
- Reformation und Scholastik: Reformatoren wie Calvin und später protestantische Scholastiker haben die klassische Metaphysik übernommen und weiterentwickelt. Doch im 20. Jahrhundert, durch Denker wie Karl Barth und Cornelius Van Til, wurde die natürliche Theologie in reformierten Kreisen weitgehend abgelehnt.
- Kritik an der Moderne: Die Ablehnung der natürlichen Theologie ist eine Folge der Aufklärung und der philosophischen Angriffe von Denkern wie David Hume und Immanuel Kant. Diese Ablehnung hat eine Erosion der theologischen und moralischen Fundamente zur Folge gehabt, was sich in postmodernen Relativismus und Skeptizismus niederschlägt.
3. Metaphysik als Grundlage
- Realismus versus Nominalismus: Die klassische Theologie basiert auf metaphysischem Realismus, der von universalen Formen oder Ideen ausgeht. Nominalismus, der universale Kategorien leugnet, hat die metaphysische Grundlage der christlichen Theologie untergraben.
- Platon und Aristoteles: Platon betont eine zweistufige Realität: die sichtbare Welt der Schatten und die unsichtbare Welt der Formen. Aristoteles entwickelte dies weiter, indem er die Formen in den Dingen selbst verankerte.
- Augustinus und Thomas von Aquin: Augustinus führte diese platonische Tradition fort, indem er die Formen als Gedanken Gottes definierte, während Aquin die Synthese von platonischer und aristotelischer Metaphysik zur Grundlage der scholastischen Theologie machte.
4. Zusammenhang zwischen natürlicher und geoffenbarter Theologie
- Wechselwirkungen: Natürliche Theologie und geoffenbarte Theologie ergänzen sich. Während die natürliche Theologie Attribute Gottes wie seine Unveränderlichkeit oder Einfachheit rational erfasst, bringt die geoffenbarte Theologie spezifische Wahrheiten wie die Dreieinigkeit und die Inkarnation hinzu.
- Beispiel der Gottesbeweise: Argumente wie der kosmologische Gottesbeweis zeigen die Notwendigkeit eines „unbewegt Bewegenden“ oder ersten Ursprungs auf, der die Welt geschaffen hat. Diese philosophischen Einsichten korrespondieren mit dem biblischen Schöpfergott.
5. Rolle der Metaphysik in der Exegese
- Einfluss auf die Schriftinterpretation: Exegetische Arbeit wird immer von metaphysischen Annahmen beeinflusst. Diese Annahmen müssen bewusst reflektiert und in Übereinstimmung mit einer biblischen Weltsicht gebracht werden.
- Biblische Beispiele: Paulus in Apostelgeschichte 17 verwendet philosophische Argumente, um das Wesen Gottes als Schöpfer und Erhalter zu erklären. Psalm 19 illustriert die natürliche Theologie, indem er die Natur als Zeugin für Gottes Herrlichkeit darstellt.
6. Kulturelle und theologische Implikationen
- Krise der Moderne: Der Verlust klassischer metaphysischer Grundlagen führt zu einer kulturellen Desorientierung, die sich in moralischer Relativität und spiritueller Entfremdung äußert.
- Wiedergewinnung der Tradition: Die Diskussion plädiert für eine Rückkehr zu den metaphysischen und theologischen Grundlagen der klassischen Tradition, um die christliche Theologie und Kultur zu erneuern.
Matthew Barrett ist ein prominenter Vertreter nicht nur der natürlichen Theologie, sondern auch einer Neubeurteilung der Reformation. Diesen Standpunkt hat er besonders in seinem Werk “The Reformation as Renewal: Retrieving the One, Holy, Catholic, and Apostolic Church” (2023) dargelegt. Im Artikel “Natural Theology, Calvin, and Revisionism” beschreibt er die Position Calvins wie folgt (Auszüge, KI-unterstützt):
Historiker haben festgestellt, dass die natürliche Theologie von den Kirchenvätern bis zu den Scholastikern eine kontinuierliche Präsenz genoss. Diese Tradition wurde im späten Mittelalter von Denkern wie William von Ockham herausgefordert. Einige reformierte Theologen des 20. Jahrhunderts, wie Karl Barth und Cornelius Van Til, argumentierten, dass die Reformatoren, insbesondere Calvin, die natürliche Theologie ihrer mittelalterlichen Vorgänger kritisierten oder ablehnten. Diese Interpretation wurde durch moderne Übersetzungen von Calvins Institutio verstärkt, die zusätzliche Bibelzitate einfügten und seine Argumentation zur natürlichen Theologie verschleierten.
Tatsächlich widerspricht die Geschichte dieser Revision. Calvin ordnet in seiner Institutio die Erkenntnis des Schöpfers in einen Partizipationsrahmen ein: Gottes Güte und Vorsehung machen ihn zum Ursprung aller Güte. Diese Überzeugung spiegelt sich in seiner Betonung wider, dass die Schöpfung und ihre Ordnung Gottes Existenz und Güte offenbaren. Calvin sah auch in den Menschen, die im Ebenbild Gottes geschaffen wurden, ein Zeugnis der natürlichen Offenbarung, unabhängig von Bildung oder Zivilisation. Er zitierte Cicero als Beispiel für die universelle Erkenntnis eines göttlichen Wesens, selbst bei Heiden.
Obwohl Calvin die Verzerrung dieser natürlichen Erkenntnis durch die Sünde betonte, leugnete er nicht, dass Menschen durch die Schöpfung ein fundamentales Wissen über Gott besitzen. In Römer 1 erklärte er, dass Gottes unsichtbare Eigenschaften durch die geschaffene Welt deutlich wahrnehmbar seien, sodass niemand eine Entschuldigung für Unglauben habe. Für Calvin war die Neigung des Menschen zum Götzendienst ein weiterer Beweis für die unauslöschliche Sensus Divinitatis, das Wissen um Gottes Existenz.
Calvin betrachtete die Schöpfung als „Theater der Herrlichkeit Gottes“, durch das Menschen Gottes Existenz erkennen können, auch wenn sie seine Essenz nicht vollständig begreifen. Er betonte die Notwendigkeit des Glaubens als „Brille“, um diese Erkenntnis zu klären. Während er natürliche Theologie auf die Erkenntnis von Gottes Existenz und Eigenschaften beschränkte, betonte er, dass die Bibel notwendig sei, um die Errettung zu verstehen.
Die Kontinuität zwischen Calvin und der augustinischen und thomistischen Tradition zeigt sich in seinem Gebrauch natürlicher theologischer Argumente, etwa von Cicero und den Stoikern. Er verband diese Tradition mit der biblischen Offenbarung, wie sie in Römer 1 und anderen Texten bestätigt wird. Dennoch unterschied sich Calvin in einigen Aspekten: Er sah die natürliche Erkenntnis Gottes als verzerrt, während andere Reformatoren wie Luther und Zwingli mehr über deren Inhalt sagten.
Die Reformation setzte die natürliche Theologie fort, wie in Bekenntnissen wie der Belgischen und Westminster-Bekenntnis und Werken von Gelehrten wie Turretin und Junius belegt. Diese Tradition bewahrte die natürliche Theologie als Teil einer breiteren Kontinuität mit der katholischen Kirche, wobei sie die natürliche Theologie als dienend gegenüber der biblischen Offenbarung verstand. Insgesamt argumentierte Calvin nicht gegen natürliche Theologie, sondern betonte ihre Grenzen und ihre Rolle als Mittel, das durch die biblische Offenbarung ergänzt wird.
Der Zürcher Kirchenhistoriker Peter Opitz kritisiert diese Einschätzung – meines Erachtens zu Recht (Zusammenfassung, KI-unterstützt):
Opitz wirft Barrett in einer ausführlichen Rezension vor, historische Quellen zu manipulieren, indem er zentrale Aussagen der Reformatoren wie Zwingli und Bullinger verzerrt und Begriffe wie „katholisch“ oder „Tradition“ in einer Weise interpretiert, die deren eigentliche Absichten verfälscht.
- Manipulation historischer Quellen:
- Barrett stelle die Reformatoren so dar, als ob sie die „katholische Tradition“ nicht verlassen, sondern erneuern wollten. Opitz zeigt jedoch auf, dass Reformatoren wie Zwingli explizit die Autorität von Traditionen ablehnten und allein auf die Schrift („sola scriptura“) als Quelle göttlicher Wahrheit bestanden.
- Zwinglis Schriften, insbesondere die Zürcher Disputationen, betonen klar die Vorrangstellung der Schrift gegenüber kirchlichen Traditionen. Barretts Darstellung, dass Zwingli Tradition als notwendig für die Schriftinterpretation angesehen habe, widerspricht den Quellen.
- Falsche Auslegung von Begriffen:
- Barrett benutze Begriffe wie „katholisch“ und „Tradition“ im modernen Sinne, während die Reformatoren diese theologisch definierten. Für Zwingli und Bullinger war „katholisch“ eine Aussage über die universale Gemeinde Gottes, nicht über eine historische Kontinuität mit der römischen Kirche.
- Opitz kritisiert Barretts Verallgemeinerung, dass die Reformatoren „innerhalb der katholischen Tradition“ blieben. Tatsächlich betrachteten Reformatoren wie Bullinger die römische Kirche als „neue Kirche“, die von der ursprünglichen, biblischen Kirche abgewichen sei.
- Vernachlässigung wesentlicher theologischer Prinzipien:
- Opitz betont, dass die Reformatoren die Schrift als selbstgenügsam ansahen, während Barrett ihnen eine Abhängigkeit von kirchlicher Tradition zuschreibt. Bullinger habe in seinen Dekaden wiederholt darauf hingewiesen, dass die Kirche immer wieder durch menschliche Fehler korrumpiert wurde und nur durch Gottes Wort reformiert werden könne.
- Barretts Fokus auf Augustinus und mittelalterliche Scholastik ignoriere die fundamentale Kritik der Reformatoren an der Vermischung von Philosophie und Theologie in der Scholastik.
- Verfehlung der theologischen Intention:
- Opitz argumentiert, dass Barretts These die theologische Radikalität der Reformatoren abschwächt. Die Reformatoren lehnten nicht nur Missbräuche ab, sondern das gesamte Fundament der römischen Tradition, insbesondere die Gleichstellung von Schrift und Tradition.
Opitz wirft Barrett vor, die Reformatoren zu „rekatholisieren“, indem er sie in einer historischen Kontinuität mit der römisch-katholischen Kirche darstellt.