Input: Die Sozinianer und der Offene Theismus

In einer Diskussion arbeitet Carl Trueman – aus meiner Sicht beispielhaft heraus – wie eine dogmengeschichtliche Strömung Licht auf theologische Fragen der Gegenwart werfen kann.

Historische Einordnung

Kerngedanken des Sozinianismus

  • Christologie
    • Im Unterschied zum Arianismus, der Jesus als den „höchsten aller Geschöpfe“ betrachtete, lehrt der Sozinianismus, Christus sei ein besonderer, jedoch lediglich menschlicher Lehrer/Prophet ohne präexistente göttliche Natur.
    • Daraus folgt eine Verwerfung sowohl der Trinitätslehre als auch der vollständigen Gottheit Christi.
  • Sündenlehre und Versöhnung
    • Ablehnung der stellvertretenden Sühnopferlehre (penal substitution): „Wenn Gott Sünde vergibt, kann er sie nicht bestrafen, und wenn er straft, vergibt er nicht“ – so das Grundargument der Sozinianer gegen die klassische, v. a. reformierte Sicht der Genugtuung durch Christi Opfer.
  • Gotteslehre
    • Sozinianer rationalisieren biblische Aussagen:
      • Teilweise extreme wörtliche Bibelauslegung (z. B. „Wenn Gott im Garten wandelte, muss er einen Körper haben“).
      • Andere Gruppe („rationalistische Sozinianer“) stützt ihre Theologie stark auf menschliche Vernunft (z. B. Leugnung der Trinität, weil sie „unvernünftig“ erscheine).

Hauptargumente gegen die Tradition und die Reaktion der Reformierten

  • Radikaler (biblistischer) Einzelansatz
    • Sozinianer: Die „traditionelle“ Kirche (Kirchenväter, Konzilien usw.) habe die reine biblische Lehre durch griechische Philosophie oder Spekulation verfälscht.
    • Wollen daher möglichst von Null (ad fontes) beginnen, „allein die Schrift“, allerdings oft atomistisch (Hermeneutik ohne Berücksichtigung des Analogia Fidei).
  • Reformierte Antwort
    • Die reformierten Theologen (z. B. Calvin, Turretin, Owen) betonen zwar auch die Sola-Scriptura-Prinzipien, doch nicht in einem radikal ablehnenden Sinn gegenüber den Kirchenvätern.
    • Man müsse die kirchliche Tradition (insbesondere die altkirchlichen Trinitäts- und Christologie-Definitionen) insofern würdigen, als sie das Resultat gründlicher Auslegung und geistgeleiteter Auseinandersetzung mit Irrlehren darstelle.
  • Orthodoxe Bekenntnisse
    • Das Festhalten an den altkirchlichen Bekenntnissen (Nicaea 325, Konstantinopel 381, Chalcedon 451) wird als theologisch richtig und erprobt verteidigt.
    • Ebenso zeigen spätere reformierte Bekenntnisse (z. B. Westminster Bekenntnis, Kapitel 2) eine tiefgründige Ausarbeitung von Gotteslehre und Christologie.

Rolle der Kirchengeschichte und Patristik

  • Wert der historischen Theologie
    • Carl Trueman betont: Viele Probleme, die heute als „neu“ erscheinen (z. B. im Zusammenhang mit Open Theism), wurden im 16./17. Jh. schon behandelt – besonders in der Auseinandersetzung mit den Sozinianern.
    • Verweis auf John Owen, Francis Turretin und weitere orthodox-reformierte Theologen, deren Schriften speziell gegen Sozinianismus gerichtet waren.
  • Wichtige Quellen und Autoren

Praktische Auswirkungen für Kirche und Lehre

  • Gefahr der biblistischen Radikalisierung
    • Ein warnendes Beispiel: Wer ohne kirchliche Leitplanken, d. h. ohne historisches Bewusstsein und ohne theologische Kompetenz, „nur mit der Bibel allein“ argumentiert, landet schnell bei Häresien (z. B. Leugnung der Trinität).
    • Gleiches gilt für überzogene Vernunftargumente, die gewisse biblische Wahrheiten ausschließen, weil sie dem rationalen Empfinden widersprechen.
  • Rolle der Bekenntnisse
    • Bekenntnisse wie das Westminster-Bekenntnis oder auch die alten ökumenischen Konzilien sind wertvolle Prüfsteine und Arbeitsergebnisse der Kirchengeschichte.
    • Man sollte nicht leichtfertig traditionelle Formeln (etwa „immutabiliy“, „impassibility“) verwerfen, nur weil sie „alt“ oder ungewohnt klingen. Häufig sind sie gut begründet durch biblische Exegese und Abwehr älterer Irrlehren.
  • Prinzipielle Haltung
    • Reformierte Theologie betont:
      • Scripture is the only infallible rule (Sola Scriptura).
      • Dennoch haben wir eine hermeneutische Vertrauenshaltung gegenüber der kirchlichen Tradition, sofern diese biblisch fundiert ist und in ökumenisch/bekenntnishafter Weise rezipiert wurde.

Empfehlungen für Studium und Prävention gegen Irrlehre

  • Grundlage: Intensives Studium der Bibel mit den Erkenntnissen der altkirchlichen und reformierten Theologie.
  • Patristik lesen (Athanasius, die Kappadokier, Augustinus) – hier wurden z. B. Trinitäts- und Christologiefragen grundlegend geklärt.
  • Reformierte Orthodoxie (16./17. Jh.) lesen wie Turretin, Owen
  • Historische Sensibilität: Wissen, warum bestimmte Formulierungen in den Bekenntnissen stehen.

Gegenwart und abschließende Reflexion

  • Offener Theismus als modernes Pendant
    • Viele Argumente des Offenen Theismus ähneln jenen der Sozinianer (v. a. Einschränkung der göttlichen Allwissenheit, veränderte Gottesvorstellungen).
    • Reformierte Theologen sehen in dieser „Neubelebung“ alte Streitfragen, die bereits im 17. Jh. gründlich widerlegt wurden.
  • Warnung vor „Erneuerung um jeden Preis“
    • Traditionelle Terminologie (Essenz, Hypostase, „unveränderlich“ etc.) nicht voreilig als „philosophisch fremd“ oder „überholt“ abtun.
    • Wenn man ein zentrales Dogma (etwa die Trinität, die Göttlichkeit Christi) in Frage stellt, sollte man sehr sorgfältig prüfen und auch die Last der Beweisführung tragen (gegen jahrhundertelange kirchliche Einigung).
  • Fazit
    • Sozinianismus zeigt exemplarisch die Konsequenzen einer radikal individualistischen bzw. rein rationalistischen oder biblistischen Theologie.
    • Die reformierte Position besteht darauf, Bibel und Tradition (als geprüftes Glaubenserbe) zusammenzuhalten, um solcherlei Irrtümer zu vermeiden.