In einer Diskussion arbeitet Carl Trueman – aus meiner Sicht beispielhaft heraus – wie eine dogmengeschichtliche Strömung Licht auf theologische Fragen der Gegenwart werfen kann.
Historische Einordnung
- Sozinianismus gehört zur sog. radikalen Reformation (neben magisterieller Reformation und katholischer Reform).
- Benannt nach den italienischen Theologen Lelius (Laelio) Socinus und Faustus (Fausto) Socinus.
- Entstehung und Hauptwirken besonders in Polen (polnische Sozinianer, „Rakauer Katechismus“) und später in anderen Teilen Europas.
Kerngedanken des Sozinianismus
- Christologie
- Im Unterschied zum Arianismus, der Jesus als den „höchsten aller Geschöpfe“ betrachtete, lehrt der Sozinianismus, Christus sei ein besonderer, jedoch lediglich menschlicher Lehrer/Prophet ohne präexistente göttliche Natur.
- Daraus folgt eine Verwerfung sowohl der Trinitätslehre als auch der vollständigen Gottheit Christi.
- Sündenlehre und Versöhnung
- Ablehnung der stellvertretenden Sühnopferlehre (penal substitution): „Wenn Gott Sünde vergibt, kann er sie nicht bestrafen, und wenn er straft, vergibt er nicht“ – so das Grundargument der Sozinianer gegen die klassische, v. a. reformierte Sicht der Genugtuung durch Christi Opfer.
- Gotteslehre
- Sozinianer rationalisieren biblische Aussagen:
- Teilweise extreme wörtliche Bibelauslegung (z. B. „Wenn Gott im Garten wandelte, muss er einen Körper haben“).
- Andere Gruppe („rationalistische Sozinianer“) stützt ihre Theologie stark auf menschliche Vernunft (z. B. Leugnung der Trinität, weil sie „unvernünftig“ erscheine).
- Sozinianer rationalisieren biblische Aussagen:
Hauptargumente gegen die Tradition und die Reaktion der Reformierten
- Radikaler (biblistischer) Einzelansatz
- Sozinianer: Die „traditionelle“ Kirche (Kirchenväter, Konzilien usw.) habe die reine biblische Lehre durch griechische Philosophie oder Spekulation verfälscht.
- Wollen daher möglichst von Null (ad fontes) beginnen, „allein die Schrift“, allerdings oft atomistisch (Hermeneutik ohne Berücksichtigung des Analogia Fidei).
- Reformierte Antwort
- Die reformierten Theologen (z. B. Calvin, Turretin, Owen) betonen zwar auch die Sola-Scriptura-Prinzipien, doch nicht in einem radikal ablehnenden Sinn gegenüber den Kirchenvätern.
- Man müsse die kirchliche Tradition (insbesondere die altkirchlichen Trinitäts- und Christologie-Definitionen) insofern würdigen, als sie das Resultat gründlicher Auslegung und geistgeleiteter Auseinandersetzung mit Irrlehren darstelle.
- Orthodoxe Bekenntnisse
- Das Festhalten an den altkirchlichen Bekenntnissen (Nicaea 325, Konstantinopel 381, Chalcedon 451) wird als theologisch richtig und erprobt verteidigt.
- Ebenso zeigen spätere reformierte Bekenntnisse (z. B. Westminster Bekenntnis, Kapitel 2) eine tiefgründige Ausarbeitung von Gotteslehre und Christologie.
Rolle der Kirchengeschichte und Patristik
- Wert der historischen Theologie
- Carl Trueman betont: Viele Probleme, die heute als „neu“ erscheinen (z. B. im Zusammenhang mit Open Theism), wurden im 16./17. Jh. schon behandelt – besonders in der Auseinandersetzung mit den Sozinianern.
- Verweis auf John Owen, Francis Turretin und weitere orthodox-reformierte Theologen, deren Schriften speziell gegen Sozinianismus gerichtet waren.
- Wichtige Quellen und Autoren
- John Owen (insb. Works, Band 12, Widerlegung des „Rakauer Katechismus“).
- Francis Turretin, der in seiner Institutio Theologiae Elencticae ausführlich auf Sozinianismus eingeht.
Praktische Auswirkungen für Kirche und Lehre
- Gefahr der biblistischen Radikalisierung
- Ein warnendes Beispiel: Wer ohne kirchliche Leitplanken, d. h. ohne historisches Bewusstsein und ohne theologische Kompetenz, „nur mit der Bibel allein“ argumentiert, landet schnell bei Häresien (z. B. Leugnung der Trinität).
- Gleiches gilt für überzogene Vernunftargumente, die gewisse biblische Wahrheiten ausschließen, weil sie dem rationalen Empfinden widersprechen.
- Rolle der Bekenntnisse
- Bekenntnisse wie das Westminster-Bekenntnis oder auch die alten ökumenischen Konzilien sind wertvolle Prüfsteine und Arbeitsergebnisse der Kirchengeschichte.
- Man sollte nicht leichtfertig traditionelle Formeln (etwa „immutabiliy“, „impassibility“) verwerfen, nur weil sie „alt“ oder ungewohnt klingen. Häufig sind sie gut begründet durch biblische Exegese und Abwehr älterer Irrlehren.
- Prinzipielle Haltung
- Reformierte Theologie betont:
- Scripture is the only infallible rule (Sola Scriptura).
- Dennoch haben wir eine hermeneutische Vertrauenshaltung gegenüber der kirchlichen Tradition, sofern diese biblisch fundiert ist und in ökumenisch/bekenntnishafter Weise rezipiert wurde.
- Reformierte Theologie betont:
Empfehlungen für Studium und Prävention gegen Irrlehre
- Grundlage: Intensives Studium der Bibel mit den Erkenntnissen der altkirchlichen und reformierten Theologie.
- Patristik lesen (Athanasius, die Kappadokier, Augustinus) – hier wurden z. B. Trinitäts- und Christologiefragen grundlegend geklärt.
- Reformierte Orthodoxie (16./17. Jh.) lesen wie Turretin, Owen
- Historische Sensibilität: Wissen, warum bestimmte Formulierungen in den Bekenntnissen stehen.
Gegenwart und abschließende Reflexion
- Offener Theismus als modernes Pendant
- Viele Argumente des Offenen Theismus ähneln jenen der Sozinianer (v. a. Einschränkung der göttlichen Allwissenheit, veränderte Gottesvorstellungen).
- Reformierte Theologen sehen in dieser „Neubelebung“ alte Streitfragen, die bereits im 17. Jh. gründlich widerlegt wurden.
- Warnung vor „Erneuerung um jeden Preis“
- Traditionelle Terminologie (Essenz, Hypostase, „unveränderlich“ etc.) nicht voreilig als „philosophisch fremd“ oder „überholt“ abtun.
- Wenn man ein zentrales Dogma (etwa die Trinität, die Göttlichkeit Christi) in Frage stellt, sollte man sehr sorgfältig prüfen und auch die Last der Beweisführung tragen (gegen jahrhundertelange kirchliche Einigung).
- Fazit
- Sozinianismus zeigt exemplarisch die Konsequenzen einer radikal individualistischen bzw. rein rationalistischen oder biblistischen Theologie.
- Die reformierte Position besteht darauf, Bibel und Tradition (als geprüftes Glaubenserbe) zusammenzuhalten, um solcherlei Irrtümer zu vermeiden.