Input: Eine biblische Theologie der Sprache

Der Mathematiker und Theologe Vern Poythress (* 1946) entfaltet in einer Vorlesung in Seoul eine biblische Theologie der Sprache.

Postmoderne Vorstellung: „Sprache als Gefängnis“

  • These: Die postmoderne Sicht (bzw. manche ihrer Vertreter) betrachtet Sprache als einen geschlossenen Raum, aus dem man nicht entkommen kann.
    • These: Sprache sei rein menschlich und daher beschränkt auf menschliche Erfahrungen.
    • Folge: Gott ist in dieser Sicht „außerhalb“ oder schlicht nicht involviert; Religion reduziert sich auf menschliche Sprache ohne echten göttlichen Bezug.
  • Implikation für die Bibel:
    • Die Bibel werde in dieser Sicht rein anthropologisch als „sozialer Text“ analysiert, Gottes Gegenwart in diesem Text bleibe ausgespart.
    • Gott werde als abwesend oder irrelevant betrachtet, da Sprache ja nur „menschliche Erfindung“ sei.

Alternative: Biblisches Verständnis von Sprache

  • Zentrale Behauptung: Nach biblischer Lehre existiert Gott wirklich und spricht in die Welt hinein.
    • Gott als Schöpfer: Er schafft die Welt und kann sprechen, weil Er souverän über die Schöpfung ist.
    • Sprache als göttliches Geschenk: Menschliche Sprache ist von Gottes Sprache abgeleitet, nicht aus rein menschlichen Wurzeln.
  • Zwei Gegensätze:
    1. Unpersönliche Sicht: Welt als unpersönliche Struktur (Materie, Energie, Evolution etc.). Menschliche Sprache lediglich sozial konstruiert, Gott spielt keine Rolle.
    2. Personale Sicht: Welt als Schöpfung eines persönlichen Gottes, der spricht. Menschen sind Ebenbild Gottes und teilen dadurch eine bestimmte Form von Sprache mit Gott.

Biblische Grundlagen: Gottes Sprechen in Schöpfung und Offenbarung

  1. Johannes 1,1–3:
    • „Im Anfang war das Wort …“
    • Der „Logos“ (das Wort) ist der ewige Sohn Gottes, präexistent, göttlich.
    • Alles ist durch dieses Wort geschaffen.
    • Schlussfolgerung: Sprache (oder „Wort“) ist zutiefst in Gottes ewiges Wesen eingebettet.
  2. 1. Mose 1 (Genesis):
    • Gott spricht die Schöpfung ins Dasein („Und Gott sprach: Es werde Licht …“).
    • Sprache hat hier schöpferische Kraft.
    • Gott gibt auch Namen („Gott nannte das Licht Tag“).
    • Folgerung: Namensgebung und Sprachstruktur sind zuerst göttliche Handlungen, der Mensch spiegelt das nach.
  3. Hebräer 1,3:
    • Der Sohn Gottes „trägt alle Dinge durch das Wort seiner Macht“.
    • Neben der Schöpfung ist Gottes Wort auch im Fortbestand (Erhaltung und Lenkung) der Welt gegenwärtig (Vorsehung durch göttliches Sprechen).
  4. 1. Mose 1,28:
    • Gott spricht direkt zum Menschen: „Seid fruchtbar und mehret euch …“
    • Er übermittelt Inhalte mit konkreten Anweisungen.
    • Menschliche Sprache ist also Antwort auf Gottes vorausgehendes Sprechen.
  5. 1. Mose 2,19–20:
    • Adam benennt die Tiere.
    • Beispiel für menschliche Imitation göttlichen Sprechens (Mensch handelt analog zum schöpferischen Sprechen Gottes).

Systematik: Verschiedene „Ebenen“ von Sprache

  • Ewiges Wort (Gott der Sohn): Der präexistente, ewige Logos.
  • Schöpfungssprache Gottes: Gott spricht, um die Welt zu erschaffen und zu regieren (z.B. „Es werde Licht“).
  • Gottes Rede an den Menschen: Spezielle Offenbarung, Gebote, Verheißungen etc.
  • Menschliches Sprechen: Antwortende oder imitierende Sprache; Fähigkeit, die Welt zu benennen, sich gegenseitig mitzuteilen.
  • Wichtig: Menschliche Sprache ist nicht autonom; sie ist stets von Gottes umfassender Sprech-Realität abhängig.

Sprachphilosophische Konsequenzen

  1. Materialistische (impersonalistische) Sicht:
    • Sprache als Produkt von Evolution, sozialen Konventionen.
    • Letztlich reduzierbar auf Materie/Energie/soziologische Strukturen.
  2. Theistische (persönliche) Sicht:
    • Sprache wurzelt im personalen Gott (ewiger Logos).
    • Gott spricht und schafft Menschen als Sprachwesen nach seinem Bild.
  3. Fazit: Sprache „von oben“ statt „von unten“.

Sprache und Bund

  • Biblischer Bund: Gottes Rede ist verbindlich, schafft Verpflichtungen (Gebote) und Verheißungen (Segnungen).
  • Gott bindet sich selbst: Durch sein eigenes Wort verpflichtet er sich zu bestimmten Zusagen gegenüber seinem Volk.
  • Kraft der Sprache:
    • Sprache als Medium, um sich gegenseitig zu verpflichten (z.B. Eheversprechen, Verträge).
    • Göttliches Sprechen ist immer wahrhaftig und trägt Autorität.

Sprache und Heilsgeschichte

  • Fall (1. Mose 3):
    • Lüge, Täuschung, Verwirrung ziehen in die menschliche Kommunikation ein.
    • Dennoch bleibt die grundlegende Struktur der Sprache bestehen (der Mensch verliert nicht die Sprachfähigkeit, aber sie wird zum Missbrauch eingesetzt).
  • Sprachliche Wiederherstellung
  1. Pfingsten (Apostelgeschichte 2):
    • Geistgewirkte Rede in vielen Sprachen.
    • Umkehrung/Heilung des „Babel-Effekts“ (Sprachenverwirrung) in dem Sinne, dass nun das Evangelium alle Sprachgrenzen überwindet.
    • Beleg dafür, dass Gottes Wort in jeder Sprache verständlich werden kann.
  2. Mission:
    • „Geht hin in alle Welt“ setzt Übersetzung voraus.
    • Viele Übersetzungen in unterschiedlichste Sprachen zeigen: Die biblische Botschaft ist nicht an eine Einzelsprache gebunden.
  3. Offenbarung 5,9:
    • Menschen aus jedem „Stamm, Sprache, Volk und Nation“ loben Christus.
    • Finale Einheit in Vielfalt: Sprachen als Ausdruck göttlicher Herrlichkeit.

Trinitarische Wurzeln der Sprache

  • Dreieinigkeit (Vater, Sohn = Wort, Heiliger Geist = „Atem Gottes“):
    • Göttliche Kommunikation: Vater spricht, der Sohn ist das ewige Wort, der Geist übermittelt.
    • Schöpfung, Offenbarung und Erhaltung der Welt geschehen durch dieses dreieinige Sprechen.
  • Analogie im Menschen:
    • Unser Sprechen (Inhalt, Ausdruck, Medium) bildet analog die Strukturen von Vater, Sohn und Geist ab.
    • Menschen sind Gottes Ebenbild und damit zu Sprache fähig.

Praktische und theologische Fragen

  1. Turmbau zu Babel
    • Sprachenverwirrung als göttliche Maßnahme gegen menschlichen Hochmut.
    • Pfingsten (Apg 2) als Gegenbewegung: Sprachenvielfalt bleibt, aber wird zum Werkzeug des Evangeliums.
    • Vielfalt der Sprachen ist zugleich Fluch (Barriere) und Segen (Reichtum).
  2. Zuverlässigkeit von Übersetzungen
    • Grundgedanke: Gottes Wort ist kommunizierbar in jeder Sprache.
    • Perfekte (fehlerlose) Inspiration ist auf die Urschriften beschränkt, doch Übersetzungen transportieren zuverlässig das Evangelium.
    • Gottes Geist kann trotz menschlicher Fehlbarkeit die Botschaft bewahren.
  3. Zungenrede (moderne Glossolalie)
    • Differenzierung zwischen Pfingstereignis (bekannte Fremdsprachen) und 1Kor 14 (evtl. unverständliche Sprachen).
    • Moderne Ausprägungen umstritten: Kein automatischer Garant göttlicher Autorität, doch nicht grundsätzlich ausgeschlossen, dass Gott wirkt.
    • Wichtig: Die Schrift (Kanon) ist abgeschlossen, moderne Phänomene sind nicht auf gleicher Stufe mit biblischer Offenbarung.
  4. Bedeutung von Poesie
    • Poesie als große Stärke der biblischen Kommunikation: Berührt Herz und Vorstellungskraft.
    • Etwa die Hälfte der Bibel besteht aus poetischen Texten.
    • Poesie vermittelt Mehrdimensionalität und Tiefe, die rein sachliche Sprache nicht erreicht.
  5. Sprachen im neuen Himmel und auf neuer Erde
    • Offenbarung 5,9 zeigt Einigkeit aller Völker und Sprachen im Lob Gottes.
    • Wie genau die Sprachvielfalt dort erhalten oder überwunden wird, bleibt offen. Denkbar, dass alle alles verstehen.
    • Jedenfalls keine Trennung mehr durch Sprachbarrieren, sondern reiche Vielfalt in harmonischer Gemeinschaft.
  6. Christlicher Dienst
    • Sprachgrenzen können Dienste und Mission erschweren, sind aber Teil der von Gott genutzten Vielfalt.
    • Christen sind gerufen, Brücken zu bauen – auch sprachlich – und so an Gottes weltumspannendem Plan mitzuwirken.