Carl F. Henry behandelt im letzten Kapitel (24) des ersten Bandes von “God, Revelation and Authority” die Frage nach dem Anknüpfungspunkt zwischen Christen und Nicht-Christen, wobei er ausführlich auf die Debatte zwischen Karl Barth und Emil Brunner in den 1930ern zurückgreift.
1. Die Kontroverse um den „gemeinsamen Boden“ in der Theologie
- Zentrale Frage: Gibt es eine geteilte Wahrheit zwischen göttlicher Offenbarung und der Perspektive des sündigen Menschen?
- Historische Entwicklung:
- Karl Barth vs. Emil Brunner: Gibt es einen „Anknüpfungspunkt“ (point of contact) für das Evangelium im Menschen?
- Relevanz des Imago Dei:
- Entscheidend ist die Frage, ob und in welcher Form das Ebenbild Gottes (Imago Dei) nach dem Sündenfall bestehen bleibt.
2. Bedeutung von „Common Ground“ (gemeinsamer Boden)
- Grundsätzliches Missverständnis vermeiden:
- Kommunikation ist ohne eine minimale Gemeinsamkeit unmöglich.
- Aber die Debatte betrifft nicht bloße sprachliche oder psychologische Verständigung, sondern die Frage nach einer gemeinsamen erkenntnistheoretischen Basis.
- Verschiedene Begriffe in der Debatte:
- Common presuppositions – Gemeinsame Voraussetzungen?
- Common platform – Gemeinsame Plattform?
- Common grace – Gemeinsame Gnade?
- Point of contact – Anknüpfungspunkt?
- Zentrale Frage: Hat der Mensch eine von Gott unabhängige Fähigkeit, göttliche Wahrheit zu erkennen?
3. Die Position der christlichen Offenbarungstheologie
- Christlicher Grundsatz:
- Gott ist die Quelle aller Wahrheit, und alle Wahrheit stammt letztlich aus der göttlichen Offenbarung.
- Die christliche Lehre ist ein integrales System, das sich fundamental von nichtchristlichen Systemen unterscheidet.
- Unterschied zwischen Offenbarung und säkularen Theorien:
- Keine gemeinsamen erkenntnistheoretischen Axiome zwischen Christentum und säkularen Weltbildern.
- Gleiche Begriffe bedeuten unterschiedliche Dinge, z. B. „Gott“, „Geist“, „Geschichte“.
- Beispiel: „Gott ist Geist“ bedeutet für Plato etwas anderes als für Jesus Christus.
4. Gibt es eine geteilte Basis zwischen Glauben und Unglauben?
- Barths radikale Ablehnung eines „Anknüpfungspunkts“ im Menschen:
- Menschliche Erkenntnis kann nicht mit göttlicher Wahrheit übereinstimmen.
- Sündiger Mensch hat keinerlei Kapazität zur Erkenntnis Gottes.
- Einzige Verbindung zu Gott: Durch das Wirken des Heiligen Geistes in der Bekehrung.
- Reformierte Theologie (Gordon H. Clark, Calvin, Luther) widerspricht:
- Obwohl keine gemeinsamen Axiome existieren, bleibt eine „ontologische“ Verbindung bestehen.
- Das Imago Dei bleibt erhalten, wenn auch deformiert durch die Sünde.
- Menschen besitzen ein minimales Wissen über Gott – wenn auch unterdrückt oder verzerrt.
5. Das Problem von Barths Ablehnung eines rationalen „point of contact“
- Barth lehnt jegliche Fähigkeit des Menschen zur Gotteserkenntnis ab:
- „Das Bild Gottes ist nicht nur ruiniert, sondern ausgelöscht.“ (Kirchliche Dogmatik I/1, S. 273; engl. Ausgabe)
- Widerspruch zu reformatorischem Denken:
- Calvin und Luther: Das Ebenbild Gottes wurde beschädigt, aber nicht vernichtet.
- Menschliche Vernunft ist erhalten, auch wenn sie durch Sünde verfälscht ist.
- Folgen von Barths Ansatz:
- Keine Möglichkeit, das Evangelium rational zu erklären.
- Theologie verliert ihren intellektuellen Zugang zur Welt.
- Christliche Apologetik wird unmöglich, da es keine Grundlage für Argumente gibt.
6. Emil Brunners Kritik an Barth
- Brunners Gegenposition:
- Gottes allgemeine Offenbarung ist real und wird von allen Menschen in gewisser Weise erkannt.
- Ohne eine vorgegebene Beziehung zu Gott könnte niemand die spezielle Offenbarung erkennen.
- Alle Menschen sind Sünder, aber sie widerstehen einer vorhandenen Offenbarung Gottes.
- Bultmanns „Vorverständnis“ der Religion:
- Menschen haben eine implizite Beziehung zu Gott.
- Aber: Diese Beziehung wird durch individuelle und kulturelle Vorurteile verzerrt.
- Das Evangelium korrigiert dieses „falsche Vorverständnis“ und bringt es zur Wahrheit.
7. Biblische Perspektive: Allgemeine Offenbarung als gemeinsame Basis
- Die Bibel lehrt eine universelle Offenbarung Gottes:
- Psalm 19,1: „Die Himmel erzählen die Herrlichkeit Gottes.“
- Römer 1,18–20: „Denn Gottes unsichtbares Wesen wird durch das Geschaffene erkannt.“
- Theologische Konsequenzen:
- Die allgemeine Offenbarung ist ausreichend, um Menschen schuldig zu machen.
- Menschen wissen von Gott, aber unterdrücken dieses Wissen (Röm 1,21).
- Reformatorische Betonung der natürlichen Offenbarung:
- Luther & Calvin: Die Schöpfung und das Imago Dei legen Zeugnis über Gott ab.
- Aber: Der Mensch kann daraus keine natürliche Theologie ableiten, die zur Errettung führt.
8. Das Problem der verzerrten Wahrheit in nichtchristlichen Systemen
- Keine prinzipielle Übereinstimmung zwischen Christentum und anderen Religionen:
- Jede nichtchristliche Religion basiert letztlich auf Abweichung von der Wahrheit Gottes.
- Religionen enthalten nicht „Teile des Christentums“, sondern sind Verzerrungen göttlicher Wahrheit.
- Warum gibt es trotzdem Ähnlichkeiten?:
- Unbewusst behalten auch falsche Weltanschauungen gewisse Fragmente der Wahrheit.
- Dies geschieht nicht aufgrund menschlicher Weisheit, sondern wegen Gottes allgemeiner Offenbarung.
9. Der Fall als Ursache für das Scheitern natürlicher Theologie
- Warum der „common ground“ keine Überlappung von Systemen ist:
- Es gibt kein „gemeinsames religiöses Fundament“ zwischen Christentum und anderen Religionen.
- Grund: Der Sündenfall hat das Denken des Menschen verzerrt.
- Das Imago Dei als einzig verbliebene Verbindung zu Gott:
- Die Gottesebenbildlichkeit macht den Menschen empfänglich für Gottes Offenbarung.
- Aber: Menschen pervertieren dieses Wissen, indem sie ihre eigenen Religionen erfinden.
10. Die christliche Antwort: Offenbarung als einzige Grundlage für wahre Erkenntnis
- Die einzig wahre Basis für Wissen über Gott ist seine Offenbarung.
- Spezielle Offenbarung (Bibel) bestätigt und erweitert die allgemeine Offenbarung:
- Die biblische Botschaft bietet eine Korrektur zu den Verzerrungen durch Sünde.
- Sie präsentiert Gottes endgültige Selbstoffenbarung in Jesus Christus.
- Redemptive Revelation übertrifft Adam und Eva:
- Die Erlösung offenbart noch mehr als die ursprüngliche Schöpfung.
- Durch Christus bekommen Menschen eine tiefere Erkenntnis Gottes als je zuvor.
Fazit: Gibt es einen „gemeinsamen Boden“ zwischen Christen und Nicht-Christen?
- Kein gemeinsames erkenntnistheoretisches Fundament, weil Glauben und Unglauben fundamental gegensätzlich sind.
- Aber: Ein „point of contact“ besteht durch die allgemeine Offenbarung und das Imago Dei.
- Problem: Der Mensch unterdrückt sein Wissen um Gott und formt eigene, irrige Weltanschauungen.
- Lösung: Nur durch spezielle Offenbarung kann der Mensch wahre Gotteserkenntnis erlangen.