Ich repetiere zur Zeit einen Teil der 924 Aphorismen von Blaise Pascals Gedanken (die englische Fassung nach Trotter). Es empfiehlt sich, die Ziffern 86-100 zu lesen.
Selbstliebe als Triebkraft
Blaise Pascal beschreibt die Selbstliebe (amour-propre) als eine der grundlegendsten Triebkräfte des menschlichen Handelns. Sie verleitet Menschen dazu, sich trotz ihrer offensichtlichen Fehler selbst zu lieben und zu idealisieren. Er schreibt: „Die Natur des Selbstliebe und dieses menschlichen Ich ist es, sich selbst zu lieben und nur sich selbst zu betrachten.“ Diese Selbstbezogenheit führt dazu, dass Menschen ihre Unzulänglichkeiten ausblenden oder rechtfertigen.
Der Wunsch, sich selbst und anderen ein vorteilhafteres Bild zu präsentieren, führt zur Heuchelei. Pascal sagt: „Der Mensch will groß sein, und er sieht sich klein; er will glücklich sein, und er sieht sich elend; er will vollkommen sein, und er sieht sich voller Mängel.“ Diese Diskrepanz zwischen Wunsch und Realität erzeugt die Tendenz, sich selbst zu täuschen und vor anderen ein Bild zu erzeugen, das von der Wahrheit abweicht.
Folgen der Selbstliebe: Die Selbstliebe führt laut Pascal unweigerlich zur gesellschaftlichen Täuschung. Er erklärt: „Die Menschen täuschen sich gegenseitig und lassen sich täuschen. Niemand spricht in Gegenwart eines anderen so von ihm, wie er es in dessen Abwesenheit tun würde.“ Diese Aussage verdeutlicht, dass die zwischenmenschliche Kommunikation oft von Unehrlichkeit und taktischer Verschleierung geprägt ist.
Gegenseitige Schmeichelei und Unaufrichtigkeit: Pascal stellt fest, dass Menschen sich gegenseitig schmeicheln, um selbst geschätzt zu werden. Er bemerkt: „Wir wünschen, dass andere uns für besser halten, als wir sind, und verhalten uns dementsprechend.“ Diese Dynamik führt zu einem gesellschaftlichen Klima der Oberflächlichkeit und Heuchelei.
Selbsttäuschung und Vermeidung der Wahrheit: Ein zentrales Problem der Selbstliebe ist, dass sie zur aktiven Vermeidung der Wahrheit führt. Pascal schreibt: „Der Mensch hasst die Wahrheit, weil sie ihm seine Mängel vor Augen führt. Er fürchtet sie, weil sie sein falsches Selbstbild bedroht.“ Diese Abwehrhaltung gegenüber der Wahrheit verhindert echtes Wachstum und Selbsterkenntnis.
Pascal wägt die Übel ab: „Es ist wahrhaft ein Übel, voller Fehler zu sein; doch es ist ein noch größeres Übel, voller Fehler zu sein und diese nicht erkennen zu wollen.“ Die Selbsttäuschung, die aus der Selbstliebe hervorgeht, ist somit nicht nur eine individuelle Schwäche, sondern auch eine moralische Verfehlung.
Gesellschaftliche Auswirkungen: Die gesellschaftliche Struktur selbst basiert auf dieser allgegenwärtigen Täuschung. Pascal schreibt: „Das menschliche Leben ist eine beständige Illusion; Menschen täuschen und schmeicheln sich gegenseitig. Die menschliche Gesellschaft ist auf gegenseitigem Betrug aufgebaut.“
Dem gegenüber steht die Selbsterkenntnis (Ziffer 66).
- Selbsterkenntnis als Grundlage eines sinnvollen Lebens:
- Pascal betont, dass Selbsterkenntnis ein zentrales Element des menschlichen Daseins ist. Ohne das Wissen um die eigene Natur, Schwächen und Grenzen sei ein erfülltes Leben kaum möglich. Er schreibt: „Der Mensch muss sich selbst erkennen. Wenn diese Erkenntnis nicht dazu dient, die Wahrheit zu entdecken, so dient sie doch dazu, das Leben zu regeln; und es gibt nichts Besseres.“
- Diese Aussage verdeutlicht, dass Selbsterkenntnis nicht nur im metaphysischen Sinne wichtig ist, um die Wahrheit über das Universum oder Gott zu verstehen, sondern auch als praktischer Leitfaden für das tägliche Leben.
- Selbsterkenntnis als Schutz vor Illusionen:
- Pascal zeigt auf, dass ohne Selbsterkenntnis der Mensch anfällig für Selbsttäuschung sei. Er sagt: „Nichts ist für den Menschen schwieriger, als sich selbst zu erkennen. Er sucht in der Welt, was nur in ihm selbst zu finden ist.“ Diese Worte unterstreichen, dass viele Menschen versuchen, Erfüllung im Außen zu finden, während sie die Notwendigkeit ignorieren, sich mit ihrem inneren Selbst auseinanderzusetzen.
- Selbsterkenntnis trotz fehlender Wahrheit:
- Auch wenn der Mensch nicht in der Lage ist, alle Wahrheiten über das Dasein zu ergründen, bietet die Selbsterkenntnis Orientierung. Pascal erklärt: „Auch wenn ich nicht die Wahrheit über alles weiß, so weiß ich doch, dass ich nach ihr suchen muss. Dieses Wissen allein gibt meinem Leben Richtung.“ Dies hebt hervor, dass die Suche nach Wahrheit – selbst wenn sie unerreichbar scheint – dem Leben Sinn verleiht.
- Selbsterkenntnis als Akt der Demut:
- Pascal betont, dass die Erkenntnis der eigenen Unvollkommenheit zu Demut führt. „Der Mensch, der seine Grenzen erkennt, ist weiser als jener, der glaubt, alles zu wissen.“ Diese Haltung der Demut öffnet den Geist für göttliche Wahrheiten und verhindert, dass der Mensch in Überheblichkeit verfällt.
Ich kann Peter Kreefts Kommentar übrigens warm empfehlen; ebenso die sorgfältige editierte und kommentierte WBG-Ausgabe. Kreeft schreibt zu Pascal (in Christianity for Modern Pagans):
Pascal als prophetische Stimme für unsere Zeit
- Die Pensées sind relevanter denn je, da sie die moderne Sinnkrise beschreiben.
- Sie führen aus dem „verfluchten Wald“ (Auden) zurück zu einer Wahrheit, die in Christus verankert ist.
Die Ordnung
- Pascal wollte sein Werk mit dem Thema Tod beginnen (Pensées Nr. 150-166), da es eine starke Wirkung auf den Leser hat.
- Der Autor beginnt jedoch mit „Ordnung“ und „Methode“, um eine klarere logische Struktur zu schaffen.
Die Zwei Grundwahrheiten in den Pensées
- Erste Wahrheit: Ohne Gott ist der Mensch elend (bewiesen durch die Natur).
- Zweite Wahrheit: Mit Gott ist der Mensch glücklich (bewiesen durch die Schrift).
- Diese Grundwahrheiten entsprechen den zwei „Städten“ Augustins:
- Die Stadt Gottes (Glück mit Gott).
- Die Stadt der Welt (Elend ohne Gott).
- Die zentrale Wahl des Menschen:
- Gott oder kein Gott.
- Glück oder Unglück.
- Himmel oder Hölle.
Vergleich mit anderen apologetischen Werken
- Diese Dichotomie (Sünde und Erlösung) ist zentral in jeder orthodoxen christlichen Apologetik (Paulus, Augustinus, Thomas von Aquin, Pascal, Kierkegaard, Lewis).
- Moderne christliche Strömungen entfernen sich vom Sündenkonzept (z. B. Feminismus, New Age, Pop-Psychologie, „Demythologisierung“).
- Früher war das Problem, an die Erlösung zu glauben. Heute ist das Problem, an die Sünde zu glauben.
- Das Elend des Menschen ohne Gott ist die einzige christliche Behauptung, die sich empirisch beweisen lässt (z. B. durch das tägliche Weltgeschehen).
Bedeutungsverschiebung des Begriffs „Glück“
- Antike Bedeutung:
- Glück als objektiver Zustand der Seele (vergleichbar mit Gesundheit des Körpers).
- Glück als innere Tugend, nicht abhängig vom äußeren Schicksal.
- Glück als langfristiger Zustand (Aristotelische Eudaimonia).
- Moderne Bedeutung:
- Glück als subjektives Gefühl (z. B. momentane Euphorie).
- Glück als zufälliges äußeres Ereignis (hap = Zufall).
- Glück als vorübergehender Hochzustand.
- Folge: Pascal bietet Religion an, nicht Psychologie. Psychologie kann uns ein gutes Gefühl geben, aber nur Religion kann uns wirklich gut machen.