Michael Ward, Autor von “Planet Narnia”, beschreibt hilfreich den Hintergrund der drei Vorträge “Die Abschaffung des Menschen” (in After Humanity: A Guide to C.S. Lewis’s “The Abolition of Man”, Kapitel 2).
1. Zeitlicher und historischer Kontext (Februar 1943)
- Großbritannien befindet sich seit dreieinhalb Jahren im Zweiten Weltkrieg.
- Die Luftschlacht um England (Battle of Britain) wurde knapp gewonnen.
- Der deutsche Luftangriff (Blitz) wurde überstanden, aber Verdunkelungsvorschriften und Lebensmittelrationierung sind weiterhin in Kraft.
- Die Invasion der Alliierten in der Normandie (D-Day) ist noch über ein Jahr entfernt.
- Der Krieg im Pazifik gegen Japan scheint noch weit entfernt von einem Ende.
- Die Universitäten bleiben geöffnet, jedoch sind sie durch den Krieg stark beeinträchtigt.
2. C. S. Lewis’ persönliche Situation und Rolle während des Krieges
- Er war in Oxford aktiv bei der örtlichen Heimwehr (Local Defence Volunteers), die von Churchill zur Home Guard umbenannt wurde.
- Er reiste durch Großbritannien und hielt Vorträge für die Royal Air Force (RAF), deren Lebenserwartung in Monaten gemessen wurde.
- Beim Kriegsbeginn 1939 war Lewis tief deprimiert und von Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg geplagt.
- Nach der ersten Schockphase erwachte sein kämpferischer Geist:
- Zu alt für aktiven Dienst, widmete er sich stattdessen philosophischen und religiösen Fragen, die der Krieg in den Mittelpunkt rückte.
- Er schrieb The Problem of Pain (1940), ein Buch über das Problem des Leidens.
- Er hielt christliche Vorträge für die BBC.
- Er veröffentlichte The Screwtape Letters (1942), eine satirische Auseinandersetzung mit der Psychologie der Versuchung.
3. Der intellektuelle Kampf: Bedrohungen für die Freiheit
- Für Lewis beschränkten sich die Bedrohungen nicht nur auf Hitler und Mussolini.
- Auch in demokratischen Gesellschaften wie Großbritannien gab es philosophische Strömungen, die die Freiheit gefährdeten.
- Eine besondere Gefahr sah er in der logischen Positivismus, einer Denkrichtung, die zunehmend an Bedeutung gewann.
- Lewis betrachtete diese als „Bedrohung“ und als Vorstufe zur „totalen Leere“.
- Zwei Philosophen, die mit dieser Schule in Verbindung gebracht wurden, standen besonders in seinem Fokus:
- A. J. Ayer: führender Vertreter des logischen Positivismus in Oxford.
- I. A. Richards: einflussreicher Denker in Cambridge mit einer subjektivistischen Sichtweise.
4. A. J. Ayer und die Bedeutung des logischen Positivismus
- Ayer war Dozent am renommierten Christ Church College in Oxford.
- 1936 veröffentlichte er Language, Truth and Logic, ein Werk, das großen Einfluss hatte.
- Zentrale These: Sinnvolle Aussagen müssen entweder:
- Tautologisch sein (z.B. „Alle Junggesellen sind unverheiratet“).
- Empirisch überprüfbar sein.
- Daraus folgte:
- Aussagen über Ethik oder Moral haben keine objektive Bedeutung.
- Beispiel: „Du hast falsch gehandelt, als du das Geld gestohlen hast“ enthält keine objektive Wahrheit, sondern lediglich die subjektive Ablehnung des Sprechers.
- Moralische Urteile seien nichts weiter als Ausdruck persönlicher Emotionen, vergleichbar mit einem Ausrufungszeichen oder einem entsetzten Tonfall.
- Diese Idee war revolutionär, hatte aber erhebliche Schwächen:
- Ayer selbst räumte später ein, dass fast alles daran falsch war.
- Dennoch war sie extrem einflussreich, und John Lucas bemerkte: „Der logische Positivismus fegte alles hinweg.“
- Lewis nahm den Kampf gegen diese Philosophie auf:
- 1946 debattierte er öffentlich mit Ayer im Socratic Club in Oxford.
- Nach dem Streitgespräch bezeichnete er Ayer scherzhaft als „eine Mischung aus Nagetier und Glühwürmchen“.
- Ayer nahm den Kommentar mit britischem Humor: „Ich fühlte mich nicht gerade geschmeichelt, aber ich wusste, was Lewis meinte.“
5. I.A. Richards als Hauptziel von Lewis’ Kritik
- Richards war schwieriger einzuordnen als Ayer:
- Interdisziplinär tätig in Geschichte, Philosophie, Medizin und Literatur.
- Entwickelte eine Faszination für Konfuzianismus und verbrachte Zeit in China.
- Ursprünglich positivistisch, später eher subjektivistisch eingestellt.
- Richards propagierte eine subjektivistische Ästhetik:
- Schönheit existiert nicht objektiv, sondern nur als Gefühl in der Wahrnehmung des Betrachters.
- Beispiel aus seinem Principles of Literary Criticism (1924):
- „Wir sagen, ein Bild sei schön, statt zu sagen, dass es in uns eine wertvolle Erfahrung auslöst.“
- „Wenige kompetente Personen glauben heute noch an eine mystische Qualität namens Schönheit, die Objekten inhärent ist.“
- „Kritische Aussagen beziehen sich auf Zustände des Geistes, nicht auf äußere Objekte.“
- Lewis fand diese Ansicht absurd und widersprach ihr vehement.
- Lewis’ persönliche Begegnung mit Richards:
- Nach einem Vortrag an der Universität Oxford kehrte Richards mit Lewis in dessen College zurück.
- Es gab kein Gästezimmer, daher bot Lewis ihm ein Zimmer seines Kollegen an.
- Richards fand dort ein Exemplar seines eigenen Buches mit scharf kritischen Randbemerkungen von Lewis.
- Lewis überreichte es mit den Worten: „Hier ist etwas, das Sie bestimmt in den Schlaf versetzt.“
- Richards konnte daraufhin nicht schlafen.
6. Philosophischer Kernkonflikt zwischen Lewis und seinen Gegnern
- Ayer und Richards vertraten verschiedene Strömungen, aber beide führten zu ähnlichen Konsequenzen:
- Ayer leugnete objektive moralische Werte.
- Richards leugnete objektive ästhetische Werte.
- Lewis hielt dies für gefährlich:
- Wenn Ayer Recht hätte, gäbe es keine objektiven moralischen Prinzipien.
- Wenn Richards Recht hätte, gäbe es keine objektiven künstlerischen Maßstäbe.
- Beides zusammen bedeutete eine radikale Dekonstruktion der Werte, auf denen Zivilisationen basieren.
- Die Verbindung zwischen diesen philosophischen Ideen und den Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs war für Lewis naheliegend:
- Europa erlebte systematische Massenmorde, Hunger und Luftangriffe.
- Die Frage, ob Moral und Gerechtigkeit noch eine Bedeutung hatten, war existenziell.
- War die Menschheit an einem Punkt angelangt, an dem alles bedeutungslos geworden war?
7. Anlass für The Abolition of Man
- In dieser kritischen Zeit wurde Lewis eingeladen, die Riddell Memorial Lectures an der Universität Durham zu halten.
- Die Vortragsreihe sollte die Verbindung zwischen Religion und zeitgenössischem Denken untersuchen.
- Überraschenderweise sprach Lewis fast nicht über Religion, sondern ging noch fundamentaler auf das Problem ein:
- Er analysierte die Gefahr des Subjektivismus für Ethik, Ästhetik und Wahrheit.
- Er wollte das Publikum auf die tiefgreifenden Folgen dieser Ideen aufmerksam machen.