Peter Kreeft über die Summa Theologica von Thomas von Aquin (in Peter Kreeft “Summa of the Summa”, Kapitel 1):
I. Charakter und Zweck einer Summa
- Definition und Natur
- Eine Summa ist in erster Linie eine Zusammenfassung – mehr ein Enzyklopädie-ähnliches Nachschlagewerk als ein fortlaufender Lehrtext.
- Ihre Sprache ist extrem wortökonomisch: Es gibt keine Ausschweifungen, wenige Illustrationen, alles wird auf den „Punkt“ gebracht.
- Diese knappe Ausdrucksweise entspricht dem Bedürfnis der mittelalterlichen Gelehrten und spricht zugleich den „beschäftigten modernen“ Leser an.
- Ordnung als Spiegel göttlicher Ordnung
- Die mittelalterliche Leidenschaft für Ordnung gründet sich auf die Annahme, dass auch Gott – als Schöpfer des Universums – eine Ordnung in der Schöpfung verankert hat.
- Dementsprechend ist auch die Summa mit großer Sorgfalt strukturiert: Sie beginnt mit Gott, geht über zur Schöpfung und dem Menschen und mündet in die Rückkehr des Menschen zu Gott (durch Christus und die Kirche).
- Das Modell des „exitus-redditus“ (Ausgang und Rückkehr) spiegelt die dynamische Beziehung zwischen dem Ursprung des Seins und seiner letztendlichen Vollendung wider.
- Dynamik versus statische Informationssammlung
- Anders als ein rein statisches Nachschlagewerk ist die Summa lebendig und dynamisch – vergleichbar mit Blut, das durch den Körper (das Universum) fließt.
- Diese Dynamik zeigt sich auch in der strukturierten, aber fragmentierten Darstellung der Inhalte.
II. Methodik der Summa: Strukturierte Debatte
- Das Prinzip der zusammengefassten Disputation
- Eine Summa ist als eine strukturierte Zusammenfassung einer Debatte zu verstehen.
- Für die mittelalterlichen Denker war die Disputation eine Kunstform und Wissenschaft, bei der die Dialektik (im Sinne von Gegensätzen und deren Aufarbeitung) zur Wahrheitsfindung beitrug.
- Die aufgeführten „Einwände“ sind keineswegs einfache Strohmänner; sie sind ernstzunehmende Argumente, die der Autor gründlich beleuchtet und in seine eigene Argumentation integriert.
- Fünf zentrale Schritte eines Artikels
- Fragestellung formulieren
- Die Artikel beginnen stets mit einer klar abgegrenzten Ja/Nein-Frage („Utrum …?“), um das Diskussionsthema zu fokussieren.
- Aufstellung der Einwände
- Mehrere, oft drei, Einwände werden als scheinbare Gegenargumente präsentiert („Es scheint, dass …“).
- Diese Einwände enthalten fundierte Argumente, die in der damaligen Debattenkultur ernsthaft zu diskutieren waren.
- Sed contra – Gegenposition aus Autoritäten
- Anschließend wird kurz und prägnant mit „Sed contra …“ der Standpunkt der Schriftsteller (z. B. Bibel, Kirchenväter) zitiert, der dem entgegensteht.
- Hauptantwort (Respondeo dicens)
- Im zentralen Teil des Artikels wird systematisch die eigene Position entwickelt, Argumente ausgeführt und Hintergründe erklärt.
- Dieser Abschnitt wird auch als der „Kern“ des Artikels empfohlen, da hier die Beweisführung und Systematik am deutlichsten wird.
- Antwort auf die Einwände
- Abschließend werden alle zuvor genannten Einwände einzeln wieder aufgegriffen und entkräftet, wobei unterschieden wird zwischen wertvollen Elementen und den eigentlichen Fehlern.
- Bedeutung der Argumentation
- Jeder dieser Schritte ist essenziell, um eine fundierte, logisch schlüssige Antwort zu entwickeln.
- Die Methode verhindert oberflächliche oder dogmatische Aussagen und zeigt stattdessen, wie auch scheinbar widersprüchliche Argumente Teil einer umfassenden Wahrheitssuche sein können.
III. Vorbereitung und sprachliche Grundlagen
- Notwendigkeit der logischen Grundkenntnisse
- Zur Lektüre der Summa wird empfohlen, sich zunächst mit der aristotelischen Logik vertraut zu machen – insbesondere den „Drei Akten des Geistes“: Verstehen, Urteilen und Argumentieren.
- Ein klares Verständnis der grundlegenden logischen Einheiten (Begriffe, Propositionen, Argumente) sowie der Struktur des Syllogismus ist entscheidend, um den Aufbau der Artikel nachzuvollziehen.
- Philosophischer Hintergrund
- Neben der Logik ist ein Grundverständnis der aristotelischen Philosophie notwendig, da St. Thomas diese als philosophische Sprache und Ausgangspunkt verwendet.
- Empfehlungen wie Mortimer Adlers „Aristotle for Everybody“ oder W. D. Ross’ Werke sollen als Einstieg dienen.
IV. Aufbau der Summa Theologica
- Gliederung in vier Hauptteile
- Die Summa ist in vier Gesamtteile unterteilt (I, I-II, II-II, III), wobei jeder Teil in weiter unterteilte Traktate, Fragen und Artikel aufgeteilt ist.
- Diese mehrschichtige Gliederung ermöglicht es, komplexe theologische und philosophische Themen systematisch zu bearbeiten.
- Form und Funktion der Artikel
- Während das, was wir heute als „Artikel“ bezeichnen, bei Thomas eine „Frage“ darstellt, ist dessen Begriff der „Article“ eher vergleichbar mit einem Essay.
- Die klare Trennung in Frageformulierung, Einwände, Sed contra, Hauptantwort und abschließende Begründung der Einwände macht jeden Artikel zu einer in sich abgeschlossenen, argumentativen Einheit.