Paul Carter führt in dieser Einheit (28 Minuten) in das Buch der Psalmen ein.
Historische Bedeutung der Psalmen in der Kirche
- Während des Mittelalters waren die Psalmen oft das am besten bekannte Buch der Bibel; Gläubige besaßen teilweise nur Auszüge daraus.
- Martin Luther bezeichnete die Psalmen als „eine kleine Bibel“ und betrachtete sie sowohl als Lehrbuch des Glaubens wie auch als Wegweiser für das persönliche Gebet und die Frömmigkeit.
- Die Psalmen dienten in der ganzen Kirchengeschichte als Grundlage für Meditation, Gebet und geistliche Formung.
Martin Luther und die Psalmen
- Luthers erste Vorlesungen als Professor handelten von den Psalmen.
- Durch die intensive Auseinandersetzung mit den Psalmen festigte Luther seine reformatorischen Überzeugungen.
- Er sah in den Psalmen eine Art „geistliches Katechismusbuch“, das nicht nur Lehre vermittelt, sondern auch die Empfindungen, Gedanken, Lieder und Gebete der Gläubigen prägt.
Zwiegesprächstheologie (Willem van Gemeren):
- Die Psalmen seien wie andere biblische Bücher zwar „von Gott inspiriert und nützlich“ (vgl. 2Tim 3,16–17), besitzen jedoch eine besondere Eigenschaft.
- Gottes Volk wird hier ausdrücklich eingeladen, die Worte der Psalmen selbst zu beten und im Gottesdienst zu verwenden.
- Dadurch entsteht eine fortlaufende „Zwiegesprächstheologie“: Gott spricht durch die Psalmen zum Menschen, und der Mensch antwortet Gott mit eben diesen Worten.
Autorschaft und Zusammensetzung des Psalters
- 73 der 150 Psalmen werden direkt David zugeschrieben; 13 davon mit konkreten Hinweisen auf Ereignisse in Davids Leben.
- Andere Psalmen (z. B. Ps 2 und Ps 95) werden im Neuen Testament David zugesprochen, obwohl im hebräischen Urtext keine solche Überschrift steht.
- Insgesamt werden sieben verschiedene Autoren namentlich genannt: David, die Söhne Korahs, Asaph, Salomo, Heman, Ethan und Mose.
- Der Psalter gilt daher als kollektives Werk, wobei David der Hauptautor ist.
Zeitraum der Abfassung
- Die Entstehungsspanne reicht von Mose (Ps 90) bis in die Exils- und Nachexilszeit (z. B. Ps 107).
- Zahlreiche Psalmen stammen aus Davids Epoche (um 1000 v. Chr.), andere reflektieren das Exil und den Wiederaufbau nach der Rückkehr.
- Es ist unstrittig, dass die Zusammenstellung des Psalters in verschiedenen Stufen erfolgte, ähnlich wie bei den Sprüchen (z. B. Hinzufügungen zur Zeit König Hiskias; Spr 25,1).
Christologische Deutung der Psalmen in der Kirchengeschichte
- Die frühe Kirche las die Psalmen nahezu durchweg als Hinweise auf Christus (etwa Psalm 2, 22, 110).
- Jesus selbst bezieht sich in Lk 24,44 auf „Mose, die Propheten und die Psalmen“ als Zeugnis über sich.
- In der Antike und im Mittelalter war man meist selbstverständlich davon überzeugt, dass die Psalmen auf Jesus hinweisen.
Ansätze der Auslegung – Luther, Calvin und andere
- Luther interpretierte die Psalmen sehr direkt und sah Christus in fast jedem Vers, selbst bei Bußpsalmen wie Psalm 51.
- Calvin betonte stärker den ursprünglichen Kontext und Autor, betonte aber ebenfalls die letztliche Erfüllung in Christus. Er sah David und seine Dynastie als „Schatten“ des endzeitlichen Königs Jesus.
- Im 19. Jahrhundert wurden christologische Bezüge oft zurückgewiesen oder stark abgeschwächt, doch heute kehren viele Ausleger (z. B. Christopher Ash) zu einem deutlicher christuszentrierten Blick zurück.
Das Bild des „Königsgewandes“
- Die königlichen Psalmen („Messianische Psalmen“) passen nur unvollkommen auf Davids Nachfolger.
- Die „Gewänder“ sind für jeden historischen König Israels zu groß; erst in Jesus Christus finden sie die perfekte Erfüllung.
- Bei der Auslegung sucht man daher stets das Spannungsfeld zwischen dem historischen König und dem zukünftigen, wahren König.
Vorgehensweise bei der Anwendung der Psalmen heute
- Historischer Sinn: Was bedeutete der Psalm für den ursprünglichen Autor (z. B. David)?
- Altbund-Kontext: Wie wurde er von Gläubigen im Alten Bund verstanden und gebetet?
- Erfüllung in Christus: Wie nahm Jesus selbst den Psalm auf (z. B. Ps 22 am Kreuz), und wie vollendete er dessen Aussage?
- Neu-testamentliche Anwendung: Was bedeutet der Psalm für Christen heute, im Licht von Kreuz und Auferstehung?
Aktuelle Unterbewertung der Psalmen
- Die heutigen Evangelikalen nutzen die Psalmen weniger als frühere Generationen, oft wegen ihrer dichterischen Sprache und teils komplexen historischen Bezüge.
- Wer jedoch die Grundregeln beachtet (historischer Kontext, literarische Struktur, christologische Linse), entdeckt großen geistlichen Reichtum.
- Ziel dieser Psalmenreise ist es, die Formkraft und Heilkraft der Psalmen wiederzuentdecken und durch sie zu einer tieferen Gemeinschaft mit Christus zu finden.
- Jesus ist der „wahre Gesegnete“ und der „wahre Sohn Davids“. Wer in ihm Zuflucht nimmt, empfängt letztlich alle Verheißungen, die in den Psalmen aufleuchten.