Mit viel Freude habe ich 2024 die “Tolkien Dogmatics: Theology Through Mythology With the Maker of Middle-Earth” des Theologen Austin Freeman gelesen. Im ersten Kapitel setzt er sich mit der Tolkien-Rezeption auseinander:
Mit welcher Sichtweise schrieb er dieses Werk?
- Der Autor räumt ein, dass die Konstruktion von Tolkiens Theologie eine “textuelle Archäologie” über verschiedene Quellen hinweg (Briefe, Essays, Poesie, Fiktion) erfordert, da Tolkien keine expliziten theologischen Abhandlungen verfasste.
- Tolkien selbst behauptete, dass sein Christentum die wichtigste Tatsache zum Verständnis seines literarischen Werks sei, und erklärte, dass “Der Herr der Ringe natürlich ein grundlegend religiöses und katholisches Werk ist.”
- Der Text behandelt Debatten darüber, ob Tolkiens Werke als christlich oder heidnisch gelesen werden sollten, und plädiert für eine nuancierte Sichtweise, die Mittelerde als “chronologisch vorchristlich, aber metaphysisch christlich” anerkennt.
- Der Autor skizziert eine Methodik, die Tolkiens Sachliteratur (besonders seine Briefe) gegenüber seiner Fiktion priorisiert, späteren Werken mehr Gewicht gibt als früheren und den katholischen theologischen Kontext anerkennt, ohne die Analyse auf kirchliche Lehren zu beschränken.
Detaillierter:
Es gibt zwei Extrempositionen in der Tolkien-Interpretation:
- Die “Monstrance”-Sicht: Tolkiens Fiktion wird nur als dünne Apologie für den Katholizismus gesehen, bei der die Lehren der Kirche im Mittelpunkt stehen. Eine Monstranz ist ein verziertes Gefäß zur öffentlichen Ausstellung eines Andachtsobjekts; die Kunst existiert hier nur zum Zwecke der Ausstellung.
- Die “Critics”-Sicht: Als Reaktion auf die übereifrige Aneignung Tolkiens durch das Monstrance-Lager oder aus persönlicher Abneigung gegen das Christentum versuchen diese Leser, die religiösen Stränge in Tolkiens Denken herunterzuspielen.
Tolkiens explizite theologische Aussagen (am häufigsten in “The Letters of J.R.R. Tolkien”) sind meist keine zusammenhängenden Argumentationen, sondern beiläufige Kommentare in spezifischen Lebenssituationen.
Dennoch war Tolkiens Theologie kein Hintergrundmerkmal seines Lebens. Schon als junger Mann bezeichnete er Religion neben Liebe, patriotischer Pflicht und Nationalismus als seine treibende Kraft und Grundlage.
Seine Tochter Priscilla bestätigt, dass Tolkien selten oder nie didaktisch über Dogmen sprach, sondern religiöse Themen und moralische Fragen durch das Medium des Geschichtenerzählens zum Ausdruck brachte.
Freeman interpretiert es so, dass wir christliche Theologie nicht in den expliziten Elementen der Geschichten suchen sollten (da sie in einer vorchristlichen Welt spielen), sondern in der Tiefenstruktur der Geschichte, in ihrer Metaphysik, Ethik und in der Form ihrer Handlung.
Es muss zwischen Erzähler und Autor unterschieden werden, zwischen dem, was in Mittelerde wahr ist, und dem, was in der primären Welt wahr ist. Tolkien agiert manchmal als unzuverlässiger Erzähler. Obwohl Mittelerde von Tolkien als unsere eigene Erde in ferner mythischer Vergangenheit gedacht war, entspricht der metaphysische Apparat, den Tolkien erschaffen hat, nicht vollständig dem, was Tolkien über die primäre Realität glaubte.