Seit einiger Zeit gilt ein besonderes historisches Interesse dem faszinierenden Riesenreich China. Frank Dikötters Trilogie zu ihrer Geschichte fesselt mich insbesondere. Kürzlich führte der China-Experte, der übrigens in einer Phase der Öffnung hunderte von Dokumenten in chinesischen Archiven las, im Podcast Uncommon Knowledge eine intensive Diskussion.
Die China-Illusion: Wirtschaftswachstum ohne Demokratie
Frank Dikötter argumentiert grundlegend gegen die verbreitete Auffassung von China als erfolgreiche Wirtschaftssupermacht. Er korrigiert die fundamentale Fehleinschätzung vieler westlicher Beobachter, die annahmen, dass wirtschaftliche Entwicklung zwangsläufig zu politischer Liberalisierung führen würde – eine Annahme, die in Fällen wie Südkorea und Taiwan zutraf, bei China jedoch fehlschlug.
Der zentrale Fehler liegt laut Dikötter in der Unfähigkeit oder Unwilligkeit, etwas Grundlegendes zu erkennen: Chinesischer Kommunismus ist Kommunismus. Diese simple Feststellung impliziert, dass die Kommunistische Partei Chinas nie die Absicht hatte, ihr Machtmonopol aufzugeben oder das sozialistische Wirtschaftssystem grundlegend zu verändern, sondern die Reformen lediglich als Mittel zum Machterhalt verstand.
Die zwei Gesichter Chinas: Städtische Fassaden und ländliche Realität
Die unbestreitbare Transformation chinesischer Städte wie Tianjin seit den 1980er Jahren erkennt Dikötter an. Die glänzenden Hochhäuser, modernen Straßen und urbane Entwicklung sind sichtbar und real. Jedoch betont er, dass diese Modernisierung nur ein Gesicht Chinas zeigt und teilweise einer Potemkinschen Fassade gleicht.
Die ländlichen Regionen, wo die Mehrheit der Chinesen lebt, präsentieren ein völlig anderes Bild. Die schönen, gepflegten Autobahnen mit Rosen enden abrupt, sobald man die Städte verlässt, und werden zu staubigen Straßen, die dann im ländlichen Raum ganz verschwinden. Diese Diskrepanz verdeutlicht für Dikötter die Prioritäten des Regimes: Hohe Investitionen in prestigeträchtige urbane Projekte, die ein Bild von Stärke und Modernität vermitteln, während der ländliche Raum vernachlässigt wird.
Besonders problematisch ist laut Dikötter das “Apartheid-System” der Haushaltsregistrierung, das Menschen vom Land systematisch benachteiligt: Wenn man von einer Frau geboren wird, die als Dorfbewohnerin klassifiziert ist, hat man nicht den gleichen Status wie jemand, der als Stadtbewohner geboren wurde. Dies gleiche einem Apartheid-System. Mit anderen Worten, sehr viele Menschen haben einen minderwertigeren Status. Sie haben keinen Zugang zu denselben Wohlfahrtsleistungen oder anderen Ressourcen, die vom Staat zugewiesen werden.
Der Mythos der staatlich gelenkten Armutsbekämpfung
Ein zentrales Element der Legitimität der Kommunistischen Partei sei die Behauptung, 800-900 Millionen Menschen aus der Armut befreit zu haben. Dikötter stellt diese Erzählung fundamental in Frage. Er präsentiert eine alternative Lesart der Geschichte: Als Mao 1976 starb, war der Lebensstandard für die meisten Chinesen niedriger als 1949, nach einer menschengemachten Hungersnot (1958-1962) mit mindestens 45 Millionen Toten und der verheerenden Kulturrevolution. China war ein außerordentlich rückständiges Land, sodass ein gewisses Wachstum von diesem niedrigen Niveau aus eigentlich nicht allzu schwierig war.
Entscheidend ist Dikötters Beobachtung, dass die wirtschaftliche Erholung bereits vor den offiziellen Reformen begann, und zwar durch Eigeninitiative der Landbevölkerung: Bereits vor Maos Tod, als 1972 jedes Parteimitglied während der Kulturrevolution zur Rechenschaft gezogen worden war und die Armee, die seit 1968 in jedem Bauernhof, jeder Fabrik, jedem Büro stationiert war, in die Kasernen zurückkehrte und ihrerseits gesäubert wurde, erkannten die Menschen auf dem Land, dass niemand mehr da war, um sie zu beaufsichtigen. Es war niemand mehr da, der ihnen sagte: ‘Geht und arbeitet auf den kollektiven Feldern.’ Der Stiefel war von ihrem Nacken genommen. Diese Freiheit von Kontrolle führte dazu, dass Menschen begannen, unterirdische Fabriken zu betreiben, Schwarzmärkte zu eröffnen und Land unter sich aufzuteilen – oft mit stillschweigender Zustimmung lokaler Parteifunktionäre, die der Jahrzehnte revolutionärer Gewalt und Armut überdrüssig waren.