Predigt: Gottes Wort in der Post-Truth-Gesellschaft

John Stotts Auslegung (1967) zu 2Tim 3,15-17:

VersWortlautHauptbeobachtungen Stotts
15a
«und weil du von Kindheit an die heiligen Schriften kennst …»
– Hēra brephous → „seit dem Säuglingsalter“: Der Glaube beginnt im Elternhaus (Lois & Eunike).
– Hierá grám­mata betont die Heiligkeit des AT als göttliche Offenbarung.
Familiäre Katechese: Frühkindliche Schriftprägung ist Gottes gewöhnlicher Weg, Leiter hervorzubringen.
15b
«… die Kraft haben, dich weise zu machen zur Rettung …»
– Schrift besitzt dynamis: innere Wirksamkeit.
– sophisai (Aorist‑Inf.): Ziel ist Heilsweisheit, nicht akademisches Wissen.
– Rettung = ganze Heilsordnung (Rechtfertigung – Heiligung – Verherrlichung).
Zielrichtung der Bibel: soteriologisch, nicht primär naturwissenschaftlich; sie zeigt Gottes Weg zum Heil.
15c
«… durch den Glauben an Christus Jesus.»
– Schrift alleine rettet nicht; sie führt zu Christus.
– AT und apostolische Botschaft bilden eine Einheit, weil beide auf den Messias verweisen.
Christozentrik: Die Bibel ist kein Selbstzweck (keine „Bibliolatrie“), sondern Zeuge für den einen Retter.
16a
«Alle Schrift ist von Gott gehaucht(theopneustos)…»
– Ein einziges Wort: theo‑pneustos = „gottgehaucht“, besser «ausgehaucht» als «einge­haucht».
– Umfasst mind. das ganze AT; wohl auch die apostolische Lehre («was du von mir gelernt hast»).
Inspiration: Ursprung bei Gott, Vermittlung durch Menschen ohne Aufhebung ihrer Persönlichkeit → höchste Autorität.
16b
«… und nützlich(ōphelimos)…»
– Göttlicher Ursprung begründet menschlichen Nutzen.
– Nutzen wird vierfach entfaltet.
Korrelation: Weil schriftgöttlich, darum praktisch verwertbar.
16c
1. «zur Lehre(didaskalia)»
Vermittelt positive Glaubens­inhalte; baut christliche Dogmatik auf.Orthodoxie sichern
16d
2. «zur Überführung(elegchos)»
Entlarvt Irrtum, korrigiert falsche Weltanschauungen.Apologetik/Pole­mik gegen Häresien
16e
3. «zur Zurechtweisung / Wieder­herstellung (epanorthōsis)»
Richtet fehlgeleitetes Verhalten wieder auf; moralische Rehabilitation.Ethik – Umkehr ermöglichen
16f
4. «zur Erziehung in Gerechtigkeit (paideia)»
Kontinuierlicher Trainings­prozess – Formung des Charakters gemäß Gottes Maßstab.Spiritual Formation
17
«damit der Mensch Gottesvollkommen sei, ausgerüstet zu jedem guten Werk.»
– Anthrōpos theou: ursprünglich Propheten­titel → heute jeder, der Gott gehört; besonders Leiter.
– artios = vollkommen, ganz; exērtismenos = vollständig ausgerüstet (Militär‑/Sport­bild).
Endziel: Ganzheitliche Reife (Glaube + Verhalten) → praktische Dienstbefähigung in Gemeinde & Welt.

Zusammenfassung der Auslegung

  1. Historischer Kontext
    • Timotheus’ lebenslange Schriftprägung steht als positives Gegenbild zur kultischen Scheinfrömmigkeit (3,5) und zur Irrlehre (3,13).
    • Paulus betont Kontinuität: Seine apostolische Lehre ent-spricht den alttestamentlichen Schriften, ist also keine Neuerfindung.
  2. Natur der Schrift
    • Sie ist theopneustos: Ursprung bei Gott, vermittelt durch Menschen – Autorität und Irrtums­losigkeit in allem, was sie lehrt über Glauben und Leben.
    • „Inspiration“ wird besser als Exspiration (Gottes Aushauchen) verstanden.
  3. Zweck der Schrift
    • Soteriologisch: führt zu „Weisheit, die rettet“ – Zentrum ist Jesus Christus.
    • Didaktisch & pädagogisch: vierfache Nützlichkeit (Dogmatik, Apologetik, Ethik, Formung).
    • Teleologisch: Ziel ist der vollständig zugerüstete Mensch Gottes, fähig zu jedem guten Werk – also Dienst‑ und Kulturverantwortung.
  4. Praktische Impulse nach Stott
    • Kirchliche Leiterschaft: Dienst ohne solide Schriftbasis ist illegitim.
    • Erziehung & Familie: Eltern tragen Hauptverantwortung, Kindern früh die Bibel nahezubringen.
    • Gemeindliche Jüngerschaft: Predigt und Unterricht müssen gleichermaßen lehrhaft, korrigierend, aufbauend und formend sein.
    • Mission & Gesellschaft: In einer „post‑truth culture“ bleibt die gottgehauchte Schrift das verlässliche Fundament für Wahrheit, Menschenwürde und verantwortliches Handeln.