Wie ist Karl Barths Theologie einzuordnen? Hier der Abriss einer stark eher an Cornelius van Tils radikaler Kritik anschliessender, jedoch eigenständiger Vorlesungsreihe von Jim Cassidy und Lane Tipton.
I. Barths theologische Ontologie und Offenbarungsverständnis
A. Offenbarungslehre: direkt oder indirekt?
- Van Til kritisiert bei Barth, dass Offenbarung für ihn nur indirekt zugänglich sei, obwohl sie in “Gottes Zeit” direkt stattfindet.
- Barth entwickelt eine dialektische Zwei-Sphären-Struktur:
- “Historie” (unsere gewöhnliche Zeit): Hier ist Gott völlig verborgen
- “Geschicht(e)” (Gottes Zeit für uns): Hier ist Gott völlig offenbart
- Die beiden Sphären sind dialektisch aufeinander bezogen, können jedoch nie identisch werden.
- Für Barth findet wahre Offenbarung nur in Jesus Christus statt, nicht in der Schrift oder Natur.
- Die Bibel ist für Barth nicht selbst Offenbarung, sondern nur Zeugnis der Offenbarung.
B. Barths aktualistisches Gottesverständnis
- Gott hat sein Sein in seiner Tat der Gnade in Jesus Christus.
- Es gibt keinen Gott “hinter” dem Gott, der sich in Jesus Christus offenbart.
- Gottes Sein ist mit seiner Offenbarungstat identisch.
- Van Til nennt dies “Aktivismus”: Für Barth konstituiert die Tat Gottes sein Wesen.
- Barth lehnt die traditionelle metaphysische Gotteslehre ab, nach der Gott ein unveränderliches, selbstgenügsames Wesen besitzt.
C. Korrelativismus
- Van Til kritisiert bei Barth einen “Korrelativismus”: Gott und Mensch bestimmen sich gegenseitig in Jesus Christus.
- Gott und Mensch haben eine wechselseitige Beziehung, in der beide aufeinander angewiesen sind.
- In Jesus Christus sind Gott und Mensch vollständig identifiziert – in “Gottes Zeit für uns”.
- Die Beziehung zwischen Gott und Mensch in Jesus Christus ist christologisch qualifiziert.
- Für Barth gibt es keinen Gott “in sich selbst” unabhängig von seiner Beziehung zum Menschen.
II. Barths Christologie und Soteriologie
A. Kein Übergang von Zorn zu Gnade
- Van Til kritisiert, dass es in Barths Theologie keinen historischen Übergang vom Zorn Gottes zur Gnade gibt.
- Bei Barth findet der Sühneopfertod Christi nicht in unserer Zeit, sondern in Gottes Zeit für uns statt.
- Die Kreuzigung und Auferstehung sind keine sequentiellen historischen Ereignisse, sondern ein einziges Ereignis in “Gottes Zeit”.
- Für Barth ist die Rechtfertigung nicht etwas, das in der Zeit geschieht, sondern etwas, das in Gottes Zeit für uns bereits geschehen ist.
- Der Mensch begegnet Gott nicht in unserer Zeit, sondern nur in der besonderen Geschichte Gottes.
B. Barths angeblicher Universalismus
- Van Til argumentiert, dass Barths Gnadenlehre zu einem Universalismus führt.
- In Jesus Christus versöhnt Gott sich mit der Menschheit in der Menschheit Christi.
- Christi Menschheit ist nicht nur seine eigene, sondern die Menschheit aller Menschen.
- Christus ist sowohl der Erwählte als auch der Verworfene, wodurch die doppelte Prädestination aufgehoben wird.
- Barth qualifiziert seinen Universalismus: Man könne nicht behaupten, dass alle Menschen gerettet werden, aber auch nicht das Gegenteil.
- Van Til sieht diese Qualifizierung als konsistent mit Barths dialektischem Denkansatz.
C. Barths Ablehnung des Werkbundes
- Barth lehnt die reformierte Lehre vom Werkbund (Bund der Werke) ab.
- Für Barth gibt es keine Zeit der Unschuld Adams vor dem Fall – der erste Mensch war sofort der erste Sünder.
- Barth versteht Adam als Symbol für jeden Menschen, nicht als historische Person mit ursprünglicher Gerechtigkeit.
- Der Gnadenbund ist für Barth der einzige Bund, der existiert hat und existieren kann.
- Jesus Christus ist der wahre Mensch, der in unmittelbarer Beziehung zum Sein Gottes steht.
III. Barths Schöpfungslehre
A. Genesis 1,1 und das Problem der mythischen Kosmologie
- Für Barth ist Genesis 1,1 von heidnischer Mythologie beeinflusst und daher kein verlässliches Zeugnis.
- Barth wendet sich stattdessen dem “Wort Gottes” zu, das Jesus Christus selbst ist.
- Für Barth entspricht “Himmel” dem Sein und Handeln Gottes, “Erde” dem Sein und Handeln des Menschen.
- Die Verbindung von Himmel und Erde entspricht dem Bund, in dem göttliches und menschliches Sein und Handeln zusammentreffen.
B. Das “Wort Gottes” bei Barth
- Das Wort Gottes in seiner grundlegenden Form ist für Barth nicht die Schrift, sondern Jesus Christus selbst.
- Die Schrift und die Predigt sind nur Zeugnisse des Wortes Gottes, nicht das Wort Gottes selbst.
- Das Wort Gottes befasst sich mit Gott und dem Menschen, nicht mit einer Kosmologie von Himmel und Erde.
- Es vermittelt eine Ontologie des Menschen, der unter dem Himmel und auf der Erde lebt.
C. Teilhabe an Jesus Christus
- Für Barth nimmt Jesus Christus als “wahrer Mensch” unmittelbar am aktualisierten Wesen Gottes teil.
- Adam und Eva nehmen indirekt am Sein Jesu Christi teil – sogar bevor sie ihn kennen oder an ihn glauben.
- Dies führt zu einer ontologischen Bestimmung des Menschen durch Jesus Christus.
- Wahrer Mensch zu sein bedeutet, an Jesus Christus teilzuhaben.
IV. Vergleich und Kritik
A. Die tiefere protestantische Konzeption vs. Barths modernistische Konzeption
- Die tiefere protestantische Konzeption (Van Til, Vos, Klein, etc.) betont:
- Gottes unveränderliches Sein unabhängig von der Schöpfung
- Die “Indoxation” des Geistes und “Inkoronation” des Sohnes im himmlischen Tempel
- Gottes Herablassung zu Adam im Werkbund
- Barths modernistische Konzeption lehnt all dies ab und ersetzt es durch:
- Gottes Sein als bestimmt durch seine Beziehung zur Schöpfung in Jesus Christus
- Das “Wort Gottes” als primordiales Ereignis der Gnade
- Den Gnadenbund als einzigen Bund
B. Van Tils Kritik an Barths Korrelativismus im Christusereignis
- Van Til erkennt mit bemerkenswerter Klarheit Barths aktualisierte Gotteslehre und die wechselseitige Beziehung zwischen Gott und Mensch in Jesus Christus.
- Er sieht den Universalismus als inhärent in Barths Gnadenkonzeption.
- Van Til betont, dass für Barth Jesus Christus sowohl der Grund des Wissens als auch des Seins für den Menschen ist.
C. Van Til über Barth und den nachvatikanischen Katholizismus
- Van Til sieht Ähnlichkeiten zwischen Barths Theologie und dem nachvatikanischen Katholizismus (Rahner, Küng).
- Beide betonen die Teilhabe der Menschheit an der ontologischen Selbstmitteilung Gottes in Jesus Christus.
- Beide lehnen die tiefere protestantische Konzeption des Werkbundes ab.
- Barths Aktualisierungslehre und Rahners sakramentale Lehre stehen gemeinsam im Gegensatz zur konfessionellen reformierten Theologie.
Theologische Gesamteinschätzung
- Barths Theologie ist eine radikale Neuformulierung des christlichen Glaubens, die mit traditionellen reformierten Überzeugungen bricht.
- Barth entwickelt eine dialektische Theologie, die versucht, sowohl Gottes Transzendenz als auch seine Immanenz in Jesus Christus zu bewahren.
- Van Til und andere reformierte Kritiker sehen in Barths Korrelativismus eine gefährliche Aufweichung des Unterschieds zwischen Schöpfer und Geschöpf.
- Barths Ablehnung des Werkbundes und seine Neuinterpretation von Adam untergraben die klassische reformierte Bundestheologie.
- Barths Christozentrismus führt zu einem “aktualisierten Anthropozentrismus”, der für Van Til und andere Kritiker problematisch ist.
- Trotz Barths Rhetorik gegen den Katholizismus gibt es tiefe Ähnlichkeiten zwischen seiner Theologie und dem transzendentalen Thomismus.
- Barths dialektische Methode erlaubt ihm, “Ja” und “Nein” gleichzeitig zu sagen, was für reformierte Kritiker unzulässige logische Widersprüche darstellt.
- Die Stärke von Barths Theologie liegt in ihrer christologischen Konsequenz; ihre Schwäche in der Ablehnung direkter Offenbarung in Schrift und Natur.
- Barth versucht, die Souveränität Gottes zu bewahren, untergräbt sie aber paradoxerweise durch seinen Korrelativismus.
- Die Grundfrage bei der Beurteilung Barths bleibt, ob seine dialektische Methode eine legitime Weiterentwicklung oder eine inakzeptable Verzerrung der reformierten Tradition darstellt.