Abraham Kuypers monumentale dreibändige Studie zur Allgemeinen Gnade (1902-1904; Teil I; Teil II; Teil III) leisten einen bedeutenden systematisch-theologischen Beitrag für die Kulturtheologie. Ich beschäftige mich nach Jahren erneut mit der biblischen Argumentationslinie. Hier sind einige Funde:
Herleitung: Die Allgemeine Gnade (gemeene gratie) entspringt der Langmut Gottes, der die Sünde zeitlich erträgt. Sie ermöglicht den Reformierten, sich aktiv in der Welt zu engagieren, ohne sich von ihr zu isolieren. Kuyper betont, dass diese Gnade nicht heilbringend ist und sich fundamental von der besonderen Gnade unterscheidet – sogar Tiere haben daran teil. Die Lehre löst das scheinbare Paradox, dass in einer völlig verdorbenen Welt dennoch Gutes existiert, und rechtfertigt christliche Weltgestaltung ohne Kompromisse bei der Sündenlehre.
(ergänzt aus Teil II) Kuyper entwickelt eine systematische Lösung für ein fundamentales theologisches Problem: die scheinbare Diskrepanz zwischen dem reformierten Bekenntnis über die totale Verderbtheit der menschlichen Natur und den empirischen Beobachtungen von Gutem in der Welt und Bösem in der Kirche. Die allgemeine Gnade wird definiert als Gottes Werk, das die Selbstvernichtung durch die Sünde zeitlich mäßigt, ohne jedoch etwas zur Seligkeit Führendes zu bewirken. Entscheidend ist, dass diese Gnade nicht gleichmäßig wirkt, sondern in verschiedenen Graden entsprechend der ursprünglichen Schöpfungsordnung und Gottes souveränem Willen. Die allgemeine Gnade wird somit als das Instrument beschrieben, durch das Gott trotz der Sünde den großen Plan der Menschheitsgeschichte vollendet und die Entwicklung des Menschengeschlechts aufrechterhält, ohne die dabei auftretenden Phänomene würde es keine kohärente Geschichte geben, sondern nur chaotische Auflösung.
Paradies und Sündenfall: Das Paradies wird nicht als mythisches Symbol, sondern als realer, geografisch begrenzter Ort beschrieben, der speziell für den Menschen angelegt war und vollkommene Harmonie ohne jegliches Leid aufwies. Die Erschaffung der Frau aus dem Mann wird als Ausdruck höchster Einheit gedeutet, nicht als nachträgliche Ergänzung, wodurch die ursprüngliche Harmonie der Geschlechter betont wird. Die Diskussion der ursprünglichen Lebensdauer dient dazu, die völlige Verschiedenheit der gefallenen von der ursprünglichen Menschennatur zu demonstrieren. Die fast tausendjährige Lebensdauer der ersten Generationen wird als historische Realität verteidigt. Der Tod wird kategorisch als Folge der Sünde verstanden, wodurch jede naturalistische Deutung des Todes als natürliches Phänomen abgelehnt wird. Dies führt zur Schlussfolgerung, dass ohne Sünde ein Übergang in die Herrlichkeit ohne Sterben stattgefunden hätte.Die Interpretation des Baumes des Lebens stellt den Höhepunkt der Argumentation dar, indem sie die übliche sakramentale Deutung als unzureichend verwirft. Stattdessen wird eine physikalisch-theologische Interpretation vorgeschlagen: Der Baum des Lebens besaß reale Kraft zur körperlichen Transformation, während der Baum der Erkenntnis das geistliche Bewusstsein betraf. Diese Unterscheidung erklärt sowohl die unterschiedlichen Gebote (essen vs. nicht essen) als auch die Notwendigkeit der Vertreibung nach dem Fall.
Bund mit Noah: Der Noachitische Bund (Genesis 9) wird als historischen und theologischen Angelpunkt etabliert. Noah wird als zweiter Stammvater konzipiert, nach dem eine völlig neue Weltordnung eintritt, die bis zur Wiederkunft Christi Bestand haben wird. Entscheidend ist seine Unterscheidung zwischen sachlichem Inhalt und geistlicher Zielsetzung: Der Bund verspricht nur natürliche, zeitliche Güter (Schutz vor Weltkatastrophen), zielt aber letztlich auf Gottes Verherrlichung durch sein Erlösungswerk ab.
Abimelech: Die Allgemeine Gnade erklärt, wie Gott die Auswirkungen der Sünde mäßigt, ohne die Sünde selbst zu beseitigen. Zentral ist dabei die Unterscheidung zwischen Wesen und Natur des Menschen: das menschliche Wesen bleibt trotz des Falls intakt und erlösungsfähig, aber die Natur – verstanden als die Wirkungsrichtung der menschlichen Kräfte – ist völlig pervertiert worden.
Die Wirkungsweise der allgemeinen Gnade wird am biblischen Beispiel Abimelechs konkretisiert, wo Gott direkt und nicht-ethisch in das Geschehen eingreift, um Sünde zu verhindern. Diese Einwirkung geschieht nicht durch moralische Überzeugung oder Gewissenswirkung, sondern als reine Machtdemonstration Gottes, der die in verkehrte Richtung wirkenden Schöpfungskräfte zügelt. Entscheidend ist, dass alle Kräfte, auch die sündigen, ursprünglich von Gott geschaffen sind und kontinuierlich von ihm erhalten werden – Sünde ist nicht die Schaffung neuer Kräfte, sondern die Umkehrung der Richtung gottgeschaffener Kräfte. Die allgemeine Gnade wirkt daher durch natürliche Mittel, indem Gott die Intensität der Kraftwirkung variiert.
(aus Teil II) Alternative Gesamterklärungen werden auf dieser Basis kritisiert:
Der Modernismus wird als gescheiterte optimistische Bewegung dargestellt, die das Böse aus Unwissenheit statt aus Bosheit erklärte und durch Bildung und Aufklärung eine goldene Zukunft versprach. Der versprochene Fortschritt blieb jedoch aus – stattdessen stiegen Verbrechen, Selbstmorde und Krankheiten, was zu einem reaktionären Pessimismus führte, der die Welt als grundsätzlich elend und hoffnungslos beschreibt.
Die römisch-katholische Lösung wird als subtiler, aber letztendlich ungenügender Ansatz kritisiert, der durch einen fundamentalen Dualismus zwischen Natur und Übernatur geprägt ist. Rom unterscheidet zwischen der natürlichen menschlichen Ausstattung und der zusätzlich verliehenen “ursprünglichen Gerechtigkeit” (donum superadditum), wodurch nach dem Sündenfall die natürliche Ausstattung zwar geschwächt, aber nicht völlig korrumpiert wurde. Dies führt zu zwei getrennten Lebenssphären: der natürlichen Gesellschaft, die aus eigener Kraft gewisse bürgerliche Tugenden hervorbringen kann, und der kirchlichen Sphäre, die übernatürliche Gnade vermittelt.
Die täuferische Alternative wird als dualistisches System kritisiert, das zwischen einer bösen Welt und einem heiligen Bereich der Kirche scharf trennt und zur “Meidung” weltlicher Angelegenheiten führt. Dieser Dualismus wird historisch auf das System des Exorzismus und der Weihe zurückgeführt, das zwischen geweihtem und ungeweihtem Bereich unterscheidet. Die reformierte Position verwirft diese Unterscheidung und interpretiert die alttestamentlichen Reinigungsgesetze als symbolisch-prophetische Abschattungen der neutestamentlichen Wirklichkeit, nicht als real wirksame Instrumente.