Ron Kubsch hat kürzlich auf die neue Augustinus-Studie “Inimici gratiae Dei – Augustinus’ Konstruktion des Pelagianismus und die Entwicklung seiner Gnadenlehre nach 418” hingewiesen. Ich habe mir den Schunken zum überblicksmässigen Lesen und Analyse vorgenommen. Das Kernstück umfasst eine sorgfältige Analyse der Schwellenschrift “Contra epistulas Pelagianorum” (418 n. Chr.). Das Ziel des Werks ist die Schaffung einer neuen Grundlage durch systematische Erschliessung dieser Schwellenschrift.
Hier sind einige Funde, welche mir methodologisch (eigenes Vorgehen zur Analyse) und inhaltlich (Theologie der Sünde) weitergeholfen haben:
A) Die Position von Julian als Ankläger von Augustinus
- Augustinus’ Position (laut Julian): Lehre vom peccatum primi hominis (Sünde des ersten Menschen) beinhaltet Zwang zur Sünde ohne Möglichkeit gerecht zu leben
- Julians Position: Liberum arbitrium (freier Wille) ist unverlierbar und natürlich
Weitere Kernpunkte:
- Ehe und Sexualität: Von Gott zum gottgefälligen Leben eingerichtet, daher sündlose Zeugung möglich
- Schöpfungstheologie: Sexualität und Fortpflanzung als göttlich geschaffen
- Heilige des Alten Testaments: Als Belege für Möglichkeit gerechten Lebens
- Gnadenlehre: Gratia adiuvans (helfende Gnade) unterstützt den Gutwilligen, propria voluntas als freie Entscheidungsinstanz
- Christologie: Vorwurf, Augustinus lehre sündhaften Christus
- Taufe: Verteidigung der Taufnotwendigkeit gegen Vorwurf wirkungsloser Taufe
- Tradux peccati: Kritik an Augustinus’ Lehre einer radix peccatorum (Wurzel der Sünden) trotz Taufe
- Rollentausch: Julian stellt sich als mahnender Verteidiger der Gemeinde dar
- Augustinus als Eindringling: Gruppe um Augustinus als manichäische Irrlehrer
B) Fünf Kernthemen des augustinischen Antipelagianismus
1. Gnade und Willensvermögen
- Menschen können sich nicht durch Schöpfungsgaben Gnade verdienen
- Gnadenbedürftigkeit aller Menschen
2. Gnade und Gesetz
- Betonung der souveränen Gnadengabe Gottes
3. Sünde und Gnadenbedürftigkeit
- Erbsündenlehre (tradux peccati originalis) als zentraler Streitpunkt
- Julians fünf Lobpreisungen (laudes): laus creaturae, laus nuptiarum, laus liberi arbitrii, laudes legis et sanctorum
- Grunddissens: Ausmaß der Schädigung der menschlichen Konstitution durch Adams Sündenfall
4. Gnade und Paulus
- Paulusexegese: Besonders Römer 7 und Philipper 3
- Paulus als Paradigma der Gnadenlehre
- Vorwurf: Pelagianer würden Paulus falsch auslegen
5. Gnade und Vollkommenheit
- Augustinus’ Heilsstadienlehre: Mensch bleibt trotz Gnade mit Konkupiszenz und Sterblichkeit behaftet
- Progressive Besserung: Vollkommenheit erst im Eschaton
- Vorwurf an Pelagianer: Hochmütiges Wähnen in eschatologischem Zustand
Christozentrische Bestimmung
- Alle fünf Themenschwerpunkte in Wechselwirkung mit der Frage nach Christi Sein und Wirken
- Vorwurf der Christus-/Kreuzesfeindlichkeit als Synthese von Augustinus’ Konstruktion des Pelagianismus
C) Vergleichspunkte von Manichäern und Pelagianern
Augustinus stellt sieben Vergleichspunkte dar:
Gegenextreme (a-d): a) Schöpfungs- und Gnadenlehre: Manichäer leugnen Gott als Schöpfer, Pelagianer machen ihn als Erlöser überflüssig b) Heilungsbedürftigkeit vs. Heilungsfähigkeit: Beide leugnen Sünde als vitium unterschiedlich c) Liberum arbitrium: Manichäer schreiben Böses nicht dem Willen zu, Pelagianer überschätzen Willensfähigkeit d) Seelenzustand: Manichäer sehen Seele als particula Dei, Pelagianer als sündlos
Gemeinsamkeiten (e-g): e) Christozentrische Soteriologie: Beide setzen auf merita (Verdienst) statt Gnade f) Taufnotwendigkeit: Beide leugnen sie aus verschiedenen Gründen g) Caro Christi: Beide entwürdigen Christi menschliche Natur unterschiedlich