Vorlesung: Ansätze für die Auslegung der Endzeitrede

In Vorbereitung zu meinen diesjährigen Evangelien-Vorlesungen in Aidlingen recherchiere ich bei D. A. Carsons reichhaltigen Vorlesungen über das Matthäus-Evangelium. Für die Auslegung schwieriger Abschnitte ist es hilfreich, verschiedene Ansätze zu prüfen. Zum Beispiel für die sogenannte Endzeitrede (Mt 24):

1. Klassischer Dispensationalismus (prämillennialistisch & prätribulationistisch)

  • Grundaufbau:
    • V. 4–28 (manchmal erst ab V. 15): Beschreibung der siebenjährigen großen Drangsal nach einer geheimen Vor-Entrückung.
    • V. 29–35: Sichtbare Wiederkunft Christi nach der Drangsal („sofort nach der Bedrängnis jener Tage“ – Mt 24,29).
    • V. 36–40Geheime Vor-Entrückung; „jenen Tag“ (Mt 24,36) versteht man als einen anderen Tag, der unbeobachtet kommt.
    • Mt 24,2 deutet einzig auf die Tempelzerstörung 70 n.Chr.; die Verse 15–28 beziehen sich dagegen auf einen künftigen, wieder aufgebauten Tempel (vgl. Lk 21).
    • Die Jüngerfrage (Mt 24,3) wird in drei Teilfragen zerlegt: (1) Tempelzerstörung, (2) Zeichen der Wiederkunft, (3) Zeichen des Endes.
    • „Diese Generation“ (Mt 24,34) wird erklärt als „diese Rasse“ (Israel) oder als Generation, die am Beginn der Drangsal lebt.
  • Stärke: Zeitangaben („sofort nach …“) werden lückenlos in eine Reihenfolge gebracht.
  • Schwächen:
    • „Diese Generation“ wird textfremd uminterpretiert; natürlich wäre die Zuhörergeneration gemeint.
    • Harmonisierung mit Mk 13 und Lk 21 ist nahezu unmöglich; das Modell stützt sich einseitig auf Matthäus.
    • Jesu Antwort müsste für die Jünger irreführend sein, da sie die Tempelzerstörung erwarteten.
    • Bis ins späte 18. Jh. findet sich keine Spur dieser Deutung; historische Kirchentradition spricht dagegen.
    • Systematische Probleme: scharfe Trennung von Israel und Gemeinde („Kirche als Klammer“).

2. „Paragraph-für-Paragraph“-Ansatz (z. B. Broadus, Lane)

  • Prinzip: Jeder Absatz wird unabhängig gedeutet; zeitliche Verknüpfungen werden zurückgestellt.
  • Einzelzuordnungen:
    • V. 15–21 (28): Fall Jerusalems 70 n.Chr.
    • V. 29–31: Sichtbare Wiederkunft Christi.
    • Mt 24,34: Tempelzerstörung innerhalb der damaligen Generation.
  • Stärke: Jeder Abschnitt darf seinen offensichtlichen Inhalt behalten.
  • Schwächen:
    • Zeitmarker kollidieren: „sofort nach dieser Bedrängnis“ (V. 29) passt schlecht, wenn Bedrängnis 70 n.Chr. und Wiederkunft noch aussteht.
    • Egal wo man die Parusie ansetzt, entweder widerspricht Vers 34 oder die Abfolge V. 29–31 bricht auseinander.

3. Alexander / Kik / Tasker / R. T. France (häufig amillennial)

  • These: Bis V. 35 geht es ausschließlich um die Tempelzerstörung. Erst ab V. 36 spricht Jesus über seine Wiederkunft.
  • Begründungsschritte:
    • Die Jünger stellen zwei Fragen: (1) Wann der Tempel fällt, (2) Zeichen der Parusie und des Endes. Jesus beantwortet sie nacheinander.
    • V. 9–28: Vorlaufende Spannungen („Wehen“) bis unmittelbar vor 70 n.Chr.
    • V. 29–31Symbolische Beschreibung der Tempelzerstörung:
      • Kosmische Sprache (V. 29; vgl. Jes 13,10; 34,4) ist gängige prophetische Bildrede für nationale Katastrophen.
      • „Kommen des Menschensohnes“ (V. 30) verweist auf Dan 7,13–14: himmlische Inthronisation, nicht Wiederkunft.
      • „Stämme des Landes“ statt „Völker der Erde“ beklagen den Verlust (Übersetzung von phylē).
      • „Engel“ (aggeloi, V. 31) sind Missionare, die nach 70 n.Chr. das Evangelium bis an die „vier Winde“ tragen.
  • Stärken:
    • Alle Zeitangaben („diese Generation“, V. 34) erfüllen sich noch im 1. Jh.
    • Klare Antwort-Reihenfolge auf die beiden Jüngerfragen.
  • Schwächen:
    • V. 21–22 spricht von einer Drangsal „wie es sie nie gab und nie mehr geben wird“ – schwer allein auf die Jahre vor 70 n.Chr. zu beziehen.
    • Die gemeinsame Häufung von Motiven (Menschensohn, Wolken, Engel, Posaune) klingt im NT fast immer nach der sichtbaren Wiederkunft (vgl. Mt 13,40–41; 16,27; 25,31; 1 Thess 4,14–17; 2 Thess 1,7).
    • Gentilmission lief schon drei Jahrzehnte vor 70 n.Chr.; Tempelsturz war kein Missions-Startschuss.
    • Politisch brachte 70 n.Chr. nicht das Ende, sondern die Festigung heidnischer Kaiserherrschaft (Vespasian).
    • „Umgekehrte Typologie“ (Israel = heidnische Mächte) wirkt konstruiert und theologisch hart.

II. Alternative Strukturvorschlag des Referenten

  • Ausgangspunkt: Die Jünger verknüpfen Tempelzerstörung, Parusie und Weltenende gedanklich eng (Mt 24,3).
  • Jesu Hauptanliegen: Es kommt eine Verzögerung (delay) zwischen Tempelzerstörung und endgültigem Ende.
  • Gliederung:
    1. V. 4–28 – „Wehen des Messias“: gesamte Zwischenzeit vom ersten bis zum zweiten Kommen, gekennzeichnet durch Verführung, Verfolgung, weltweite Krisen.
      • Besondere Spitze dieser Wehen: V. 15–21 – Fall Jerusalems 70 n.Chr.
    2. V. 29–31 – Unmittelbar nach dieser Zwischenzeit erscheint der Menschensohn sichtbar in Herrlichkeit.
    3. V. 32–35 – Rückblickende Bewertung der Zeichenphase (V. 4–28).
  • Ziel: Exegese der kommenden Abschnitte soll zeigen, wie diese Struktur sowohl Zeitmarker als auch Textlogik wahrt.