Input: Argumente für die öffentliche Schule

Die Gemeinschaft der Kirche ist (auch) dazu da, sich hinterfragen zu lassen. Dies gilt insbesondere für Bereiche, in denen ich starke eigene Überzeugungen pflege. Die Gospel Coalition hat eine hilfreiche Diskussion um öffentliche Beschulung vs. private bzw. häusliche Bildung geführt. Ich gebe die fundiert vorgetragenen Argumente für die öffentliche Schule von Jen Wilkin wieder. Es lohnt sich auch die Kommentare auf ihrem Insta-Profil zu konsultieren.

Existenzielle Perspektive: Meine Perspektive ist stark autobiografisch geprägt. Unsere Kinder haben eine öffentliche Schule besucht. Und nicht nur das, auch in meiner Familie gibt es viele Lehrkräfte an öffentlichen Einrichtungen.

Erwartungen der (Sub-)Kultur: Sie können sich vorstellen, dass ich als jemand, der in Vollzeit in einem nach außen gerichteten Dienst tätig war, im Laufe der Jahre auf viele hochgezogene Augenbrauen gestoßen bin, vor allem, wenn man eine überdurchschnittlich große Anzahl von Kindern hat. Die Leute gehen sofort davon aus, dass man als Person mit starken religiösen Überzeugungen und einer großen Familie entweder zu Hause unterrichtet oder eine Privatschule besucht.

Eigene Position: Ich würde nie sagen, dass jeder eine öffentliche Schule wählen sollte. Aber ich würde sagen, dass wir uns wirklich bemühen sollten, wenn es möglich ist, weil wir an das Ideal der öffentlichen Schule glauben.

Bildung als Merkmal der Zivilisation: Wir glauben, dass Bildung ein Recht darstellt, dass sie für das menschliche Wohlergehen notwendig und gut für die Gesellschaft ist. Es ist ein Merkmal der Zivilisation, dass man eine gebildete Bürgerschaft hat. Und wenn man das sieht, dann legt man auch Wert darauf, dass jeder, wenn möglich, eine gute Bildung erhält. 

Beteiligung als Form der Nächstenliebe: Wir glaubten, dass unsere Beteiligung am öffentlichen Schulsystem in direktem Zusammenhang mit unserer Nächstenliebe stand.

Keine Delegation der Verantwortung: Wir haben nicht angenommen, dass man sie einfach zur Ausbildung schicken kann, und dass sich dann alles von selbst regelt, dass die Kirche für alles aufkommt, was sie für ihre christliche Weltanschauung brauchen.

Zuhause als Ergänzung: Wir wussten, dass dies ein Faktor in der Art und Weise sein würde, wie sie in einer öffentlichen Schule leben, dass wir, wenn sie in einem Klassenzimmer sind, in dem die Liebe zum Lernen nicht besonders gefördert wird, dies zu Hause nachholen können.

Frühzeitige Gespräche und inhaltliche Nähe: Zu den Dingen, die wir als vorteilhaft empfanden, gehörte, dass wir wussten, dass wir frühzeitig Gespräche führen mussten. Wir haben nicht gezögert, über schwierige oder kontroverse Themen zu sprechen. Und wir wussten auch, was mit dem Lehrplan geschah, wir wussten aus erster Hand, was in diesen Bereichen vor sich ging.

Personifizierte Gespräche: (Unsere Kinder) hatten Kontakt zu einem so breiten Spektrum von Menschen. Wenn wir uns also über etwas unterhielten, das in der Kultur vor sich ging, oder sogar über aktuelle Themen wie sexuelle Orientierung, Geschlecht, Identität, all das, dann waren das nicht nur Kategorien, über die wir sprachen, sondern es waren Menschen, es waren Freunde. Es handelte sich um eine verkörperte Wahrheit, es war jemand, der in der Klasse neben ihnen saß, oder es war ein Lehrer. Und so konnten wir diese Gespräche personifizieren.

Hilfe für Schwächere: Sie waren mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen zusammen. Das ist eines der Dinge, die ich an den öffentlichen Schulen am meisten schätze: Kinder mit besonderen Bedürfnissen sind mit anderen Kindern zusammen, sie haben ein Buddy-System, um diesen Kindern zu helfen.

Vertraut mit dem Anderssein: Unsere Kinder wussten schon sehr früh, was es bedeutet,  fremd zu sein. Und das war etwas, von dem wir ihnen sagen konnten, dass es ein Gefühl ist, das man willkommen heißen sollte, nicht ein Gefühl, das man wegschieben sollte, dass man sich umso mehr von den Menschen um einen herum unterscheidet, je mehr man sich anders fühlt. Vorausgesetzt, dass diese Unterschiede in einer christlichen Überzeugung verwurzelt sind, dann können wir davon ausgehen, dass wir wahrscheinlich dem Bild Christi gleichgestaltet werden.

Input: Psalmen – eine Anatomie der menschlichen Seele

In meinem Studium der Psalmen (einführend dazu siehe Mark Futato “Teaching the Psalms”, 60 Minuten) durchlief ich erneut die Erfahrung, dass die Texte mich wechselseitig zu einer grösseren Schau Gottes anleiteten, um dann wieder einen gereinigten Blick auf mich selbst und meine Erfahrungen werfen zu lassen. In diesem ständigen Austausch befinden wir uns als Geschöpfe. Insofern ist die Aussage “in der Bibel geht es nicht um mich” nicht korrekt. Der dreieinige Gott ist keineswegs auf mich (oder auf die Welt generell) angewiesen. Er ist unabhängig und selbstgenügsam. Ich bin zu seiner Ehre geschaffen worden. Doch als “Unterkönig” hat er mich mit der Regierung zumindest über einen winzigen Teil seiner Schöpfung beauftragt (siehe Psalm 8). Die Psalmen sind Lehrstück zu göttlichen Namen, Eigenschaften und Werken (siehe z. B. Psalm 33). Sie beschäftigen sich am anderen Ende mit der gesamten Anatomie der menschlichen Seele (Johannes Calvin) – sprich mit allen Gefühls- und Lebenslage von der Wiege bis zur Bahre und darüber hinaus (“er wird nichts bei seinem Sterben mitnehmen”, siehe Psalm 49). Es lässt mich auf meinen wahren Platz zurückfallen, was enorm entlastet. “Ich gehe nicht um mit großen Dingen, die mir zu wunderbar sind.” (Psalm 131,1)

Gott gehört das Mikrofon, damit ist uns Menschen am besten gedient. Dieses Gleichgewicht mit dem wechselseitigen Blick auf den Schöpfer und Erlöser einerseits und einer intensiven Selbstgesprächen vor Gott ist eine wirksame Kur gegen die auf Selbstoptimierung ausgerichtete horizontale Lesart der Schrift. Ein aktuelles Beispiel von dem auch von Christen gefeierten Jungianer Jordan Peterson:

Peterson … liest die Geschichte von Abraham als die Geschichte eines Mannes, der sich „auf ein Abenteuer“ einlässt, um sich selbst zu optimieren. Es ist die Geschichte eines Mannes, der alles hatte, was er für ein bequemes und zufriedenes Leben brauchte. Das aber bedeutete, dass er nicht alles hatte, was er brauchte; denn was Abraham wirklich brauchte, war nicht dort zu bleiben, wo er war. Abraham musste sich auf die Reise nach oben begeben. Nach Peterson ist dies also eine Geschichte der menschlichen Optimierung durch Abenteuer. Wir haben es mit einem Archetypen zu tun, der von der Notwendigkeit spricht, das Bekannte und Bequeme zu verlassen, um mehr zu werden, als man derzeit ist. Welchen Platz nimmt Gott in dieser Geschichte ein? Er war ganz einfach das notwendige Werkzeug, durch das Abraham den Ruf des Abenteuers erhielt. …

Petersons Haltung Gott gegenüber ist ähnlich pragmatisch. Gott ist der (notwendige) Protagonist, der in die Geschichte hineingeschrieben wird, um das Ziel der menschlichen Optimierung zu strukturieren und voranzutreiben. Gott ist das Medium, durch das wir dazu aufgerufen werden, uns nach oben ins Unbekannte aufzumachen oder in die „Schätze“ zu investieren, die unserer Optimierung am meisten nützen. Gott ist das Konstrukt, das notwendig ist, um die Erschaffung Evas als „nützliche Gegenspielerin“ zu erklären, die Adam auf Trab hält und ihn so nach mehr streben lässt. Gott ist das Mittel, mit dem wir einen Blick auf das Gelobte Land werfen können (das metaphorische Ziel unserer Reise nach oben).

Tremper Longman hat übrigens neun hilfreiche Prinzipien für das Lesen der Psalmen verfasst.

  1. Lies sie in ihrem Kontext, nämlich als Anthologie, gefasst in fünf Bücher, mit dem Schlusspunkt des Gotteslobs (Ps 146-150).
  2. Beachte das Genre des Psalms; es gibt einige grobe Kategorien, aber auch manche poetischen und kompositorischen Feinheiten.
  3. Denke über die Parallelismen – die Verstärkungen, Ergänzungen und Nuancierungen – nach.
  4. Hebe den Schatz an Bildern und Vergleichen.
  5. Gib auf den Titel, der im ersten Vers auftaucht, Acht.
  6. Lass den theologischen Gehalt – gerade zur Gotteslehre – auf dich wirken.
  7. Frage danach, wie der Psalm auf Christus hinweist.
  8. Lasse deine Seele in dem Psalm spiegeln.
  9. Folge dem Aufruf des Psalms für ein geheiligtes, erneuertes Leben.

Mark Dever stellt in seinem Überblick über die Psalmen (50 Minuten) sieben Kennzeichen für geistliches Wachstum auf:

  1. Gotteslob
  2. Gedenken
  3. Klagen
  4. Entscheiden
  5. Veränderung
  6. Vertrauen
  7. Dankbarkeit

Zitat der Woche: Warum muss ich mich ganz allein entschliessen?

Nach Sam Gamdschies heldenhaftem Einsatz gegen die Riesenspinne Kankra stand ein weiterer schwieriger Moment an. Er musste davon ausgehen, dass sein Herr Frodo von der Spinne tot gebissen worden war. Nun fand er sich als letzter Gefährte vor, der den Ring weiter zu tragen hatte. Das Ringen mit sich selbst wird wundervoll von J. R. R. Tolkien wiedergegeben. Der Abschnitt ist “Medizin” beim Ringen um eigene Entschlüsse (Hervorhebungen von mir):

»Frodo, Herr Frodo!«, rief er. »Lass mich doch hier nicht allein! Ich bin’s, Sam. Geh nirgendwo hin, wo ich nicht mit kann! Wach auf, Herr Frodo! O wach doch auf, Frodo, mein Lieber, wach auf!«

»Was soll ich nur machen, was soll ich machen?«, sagte er. »Bin ich umsonst den ganzen Weg mit ihm gegangen?«

(Sam erinnert sich an einen Ausspruch von Frodo zu Beginn der Reise) Ich habe noch etwas zu tun, bevor es vorbei ist. Ich muss das erledigen, wenn du mich verstehst.

»Wie? Ich allein soll zur Schicksalskluft und alles erledigen?« Noch war ihm bang, aber der Entschluss reifte in ihm. »Wie? Ich sollte ihm den Ring abnehmen? Der Rat hat das Ding doch ihm gegeben!«

Aber sogleich wusste er die Antwort. »Und der Rat hat ihm Gefährten mit auf den Weg gegeben, damit sein Vorhaben nicht fehlschlägt. Und du bist von allen Gefährten der letzte. Das Vorhaben darf nicht fehlschlagen.« »Wenn ich doch nur nicht der Letzte wäre!«, stöhnte er. »Wenn doch nur der alte Gandalf hier wäre oder sonst jemand! Warum muss ich mich ganz allein entschließen? Ich tu doch sicher das Falsche. Und mich vorzudrängen und den Ring zu nehmen, dazu bin ich doch nicht der Richtige. Aber du hast dich nicht vorgedrängt; du bist vorgedrängt worden. Und was heißt schon, du seist nicht der Richtige? Herr Frodo, könnte man sagen, und Herr Bilbo waren’s doch auch nicht. Die haben sich nicht selbst ernannt. Also gut, ich muss mich entscheiden. Und das werd ich. Aber natürlich tu ich das Falsche, sonst wär ich ja nicht Sam Gamdschie.

Sehn wir mal: Wenn man uns hier findet oder Herrn Frodo findet, und er hat das Ding bei sich, nun, dann kriegt es der Feind. Und damit wär alles aus, mit Lórien und Bruchtal, mit dem Auenland und uns allen. Und wenn ich noch mehr Zeit vertrödle, ist sowieso alles aus. Der Krieg hat angefangen, und höchstwahrscheinlich verläuft er schon wunschgemäß für den Feind. Keine Chance, mit dem Ding umzukehren und Rat oder Erlaubnis einzuholen. Nein, entweder bleib ich hier sitzen und warte, bis sie kommen und mich über Frodos Leiche totschlagen und das Ding nehmen, oder ich nehme es selbst und gehe los.« Er holte tief Luft. »Da bleibt nur: Nimm es!«

Aus: J. R. R. Tolkien. Der Herr der Ringe. Zweiter Teil. 10. Kapitel. (Sonderausgabe, Kindle-Version, S. 1047f)

Input: Die Hochzeitpredigt zu einer Verschmähten

Mit Genuss lese ich die die neu erschienene Biografie über Timothy Keller mit Fokus auf dessen prägenden geistlichen Einflüssen. Darüber wird gesondert zu berichten sein. Hier geht es zu einer hilfreichen Lifeline zu Kellers Leben. Vor einiger Zeit habe ich mir das (Logos-)Predigtarchiv 1989-2017 besorgt. Zudem bin ich auf die Zusammenstellung von Predigten “Heralds of the King: Christ-Centered Sermons in the Tradition of Edmund P. Clowney” gestossen. Zudem sind Predigten von Kellers Mentor Edmund Clowney online verfügbar (Preaching Christ in the Old Testament; Christ in the Old Testament; Christ in all Scriptures).

Im Anhang des Hörbuchs finden sich zudem einige Schlüsselpredigten, nämlich

  • Tim Keller’s sermon “Truth, Tears, Anger, and Grace,” delivered by Keller following the 9/11 terrorist attacks on September 16, 2001
  • The first message Keller delivered for a public conference of The Gospel Coalition in 2007: “Gospel-Centered Ministry”
  • The famous sermon “The Girl Nobody Wanted,” Keller’s famous sermon about Jacob’s marriages to Rachel and Leah
  • “The Lord and the Word,” an influential 1973 lecture delivered by Edmund Clowney, Keller’s only personal mentor

Die ausgezeichnete Predigt zu Gen 29,15-35, die zur Hochzeit einer Mitarbeitern von Redeemer New York gehalten wurde, wurde in Auszügen hier wiedergegeben. Die Eröffnung bringt symbolisch zum Ausdruck, mit welchem Gespür Keller konzeptualisierte:

Die Bibel ist absolut realitätsbezogen in Bezug darauf, wie schwer es ist, nicht verheiratet zu sein; und sie ist absolut realistisch in Bezug darauf, wie schwer es ist, verheiratet zu sein. Draußen in der Welt, besonders in der Kultur außerhalb der Kirche, gibt es viele Menschen, die der Ehe gegenüber zynisch eingestellt sind. Sie haben kein Vertrauen in die Ehe und meiden sie deshalb ganz, oder sie nutzen es als Vorwand zur Flucht in ein Zusammenleben ohne Trauschein. Und innerhalb der Kirche gibt es Menschen, die genau das Gegenteil behaupten. Sie denken: “Ehe, Familie, weiße Lattenzäune (Einfamilienhaus) – das ist es, was Familienwerte ausmacht. Das ist es, wie man Erfüllung findet. Das ist es, was das menschliche Leben ausmacht.”

Die Bibel zeigt uns die Ehe und die Familie mit all ihren Freuden und Schwierigkeiten, und sie weist uns auf Jesus hin und sagt: “Das ist es, was du brauchst, um ein erfülltes Leben zu haben.”

Anhand der bezeichnenden Aussage “Am Morgen aber, siehe, da war es Lea.” (Gen 29,25) führt Keller aus:

… wenn du heiratest, wenn du eine Familie gründest, wenn du in den Dienst gehst und dir sagst: “Das wird endlich mein Leben in Ordnung bringen” (du denkst nicht wirklich, dass du es tust, bis du es tust) – diese Dinge werden nie das tun, was du denkst, dass sie tun werden. Am nächsten Morgen ist es immer Leah.

Wenn du heiratest und in irgendeiner Weise das tust, was Jakob tut, und der Person, die du heiratest, ein solches Gewicht aufbürdest, wirst du ihn oder sie vernichten. Ihr werdet euch gegenseitig umbringen. Du wirst denken, du bist mit Rahel ins Bett gegangen, aber du stehst auf und es ist Lea. Im Laufe der Zeit werden Sie erkennen, dass dies der Fall ist, dass alles enttäuschend ist, dass in allem ein Hauch von kosmischer Enttäuschung und Desillusionierung steckt, in allen Dingen, in die wir unsere größten Hoffnungen setzen. Wenn man das schließlich herausfindet, kann man vier Dinge tun.

Erstens kann man den Dingen die Schuld geben, sie fallen lassen und neue, bessere ausprobieren. Das ist der Weg des Narren.

Die zweite Möglichkeit ist, sich selbst die Schuld zu geben, sich selbst zu bestrafen und zu sagen: “Ich bin ein Versager. Ich sehe alle anderen glücklich. Ich weiß nicht, warum ich nicht glücklich bin. Irgendetwas stimmt nicht mit mir.” Man gibt sich also selbst die Schuld und wird zum Selbsthasser.

Drittens kannst du der Welt die Schuld geben und zynisch und hart werden. Man sagt: “Verflucht sei das ganze andere Geschlecht” oder was auch immer, und in diesem Fall entmenschlicht man sich selbst.

Und schließlich können wir – wie C. S. Lewis am Ende seines großen Kapitels über die Hoffnung sagt – den gesamten Schwerpunkt unseres Lebens ändern. Er resümiert: “Wenn ich in mir ein Verlangen finde, das keine Erfahrung in dieser Welt befriedigen kann, ist die wahrscheinlichste Erklärung, dass ich für eine andere Welt [etwas Übernatürliches und Ewiges] geschaffen wurde.

Zitat der Woche: Gott zurückgeben, was er uns gab

Augustinus in seiner Predigt zu Psalm 116,10-13. Ein wunderschönes Beispiel für eine soteriologische Anwendung in Predigten zu den Psalmen II («Sermones» 22-34), S. 1049-1055.

Ich habe geglaubt, darum rede ich; ich wurde aber sehr gebeugt. Ich sprach in meiner Bestürzung: »Alle Menschen sind Lügner!« Wie soll ich dem Herrn vergelten all seine Wohltaten an mir? Den Kelch des Heils will ich nehmen und den Namen des Herrn anrufen.

Gefüllt werden, damit wir ausschütten können

Der Apostel sagt: ‘Da wir aber denselben Geist des Glaubens besitzen, worüber geschrieben steht: ‘Ich habe geglaubt, deshalb habe ich geredet’, glauben auch wir und reden deshalb auch wir’ (2Kor 4,13; Ps 116,10). Wer reden will, obwohl er nicht glaubt, will ausschütten, was er nicht gefüllt hat. Man muss füllen, damit du ausschütten kannst. Aber man muss für die anderen so ausschütten, dass du selbst nicht leer zurückbleibst. Deshalb verhiess der Herr den Gläubigen die Fülle des Heiligen Geistes: Es entstehe in ihnen, sagte er, ein Wasserquell, das ins ewige Leben sprudelt (Joh 4,14). Die Eigenart einer Quelle ist es nämlich, so zu sprudeln, dass sie nicht leer wird. Und wenn uns Gott das gewährt, was vergelten wir dem Herrn für alles, was er uns vergolten hat?

… Er hat mir nämlich nicht gegeben, sondern mir wieder gegeben, weil ich Böses für Böses verdiente, und er mir Gutes für Böses wiedergab. … Wenn du also deswegen der Herr bist, weil du meiner Güter nicht bedarfst, was soll ich dem Herrn wiedergeben? (Ps 116,12)

Aus sich selbst heraus ist jeder Mensch ein Lügner

… in Bestürzung sprach er, ängstlich sprach er, er weiss nicht, was er sagte, verwirrt sprach er. Das könnte ich sagen, wenn nicht der Apostel Paulus diesen Satz bestätigt hätte, als er sagte: Nur Gott ist wahrhaftig, jeder Mensch aber ein Lügner, wie es geschrieben steht (Röm 3,4; Ps 116,11). Wenn also Gott wahrhaftig ist und allein wahrhaftig ist, jeder Mensch aber ein Lügner (Ps 116,11), woher wird der Mensch wahrhaftig sein, ausser wenn er sich dem angenähert hat, der kein Lügner ist? Schliesslich wird zu dem Menschen gesagt: Einst wart ihr Finsternis (Eph 5,8). … Darauf wollte also die Schrift hinweisen, dass jeder Mensch, absolut jeder, soweit es das Menschsein selbst betrifft, ein Lügner ist. …

Aus sich selbst heraus vermag er nichts anderes als ein Lügner zu sein; nicht weil er überhaupt nicht wahrhaftig sein könnte, sondern weil er von sich aus nicht wahrhaftig sein wird. … Wenn du also wahrhaftig bist, bist du erfüllt worden, hast Anteil an der Wahrheit erhalten.

Wir geben zurück, was wir empfangen haben

… Welchen Kelch? Des Heiles. Welchen Heiles? Christi. … Diesen Kelch empfange, wenn du dem Herrn etwas wiedergeben willst für all das, was er dir wieder gegeben hat. Wie nämlich Christus sein Leben für uns hingegeben hat, so müssen wir auch das Leben für die Brüder hingeben (1Joh 3,16). … Deswegen hast, wenn du etwas wiedergeben willst, nichts zurückgegeben, was du erhalten hast, sondern du hast noch etwas darüber hinaus erhalten. … Von ihm selbst wurde uns also alles geschenkt; durch ihn haben wir, was wir sind, wenn wir etwas Gutes sind.

Siehe auch meine Kurzresension zu “Augustinus. Die Theologie seiner Psalmen.”

Input: Kultur und Weltanschauung – eine umfassende Begriffsbestimmung

Christopher Watkin hat den Kulturbegriff klug und umfassend ausgearbeitet (in Critical Biblical Theory, 4-13). Er geht fasst zunächst die unterschiedlichen Konzepte zusammen:

Einige Ansätze betonen den kognitiven Aspekt der Kultur: Ideen, Konzepte und Weltanschauungen. Andere konzentrieren sich auf Erzählungen und Symbole. Wieder andere unterstreichen die verhaltensbezogene, körperliche, gewohnheitsmäßige Dimension oder stellen die Objekte und Artefakte einer Kultur in den Vordergrund.

Zudem nennt er einige Autoren mit eigenen Begriffsbildungen:

Der niederländische Theologe Herman Bavinck spricht von einer “Welt- und Lebenssicht” (world-and-life view, Christian Worldview, 11-13) , Francis Schaeffer von einer “Gesamtsicht” (total view, A Christian Manifesto, 61-62), Cornelius Van Til von einem “Totalitätsbild” (totality picture, The Defense of the Faith, 47), Abraham Kuyper von einem “Lebenssystem” (life system, Lectures on Calvinism, 11+20-26), Al Wolters von einer “Lebensperspektive” (life perspective, Creation Regained, 2) oder “konfessionellen Vision” (confessional vision) und Herman Dooyeweerd von einem “Grundmotiv” (ground motive, The Roots of Western Culture, 9-11).

Charles Taylor nannte es Sozialimagination – “etwas, das viel breiter und tiefer ist als die intellektuellen Schemata, die die Menschen hegen, wenn sie losgelöst über die soziale Realität nachdenken” (Modern Social Imaginaries, 23f)

Nicht zuletzt bleibt der biblische Ausdruck “Kosmos”, ein Begriff, der … “nicht einfach auf alles, was es gibt, verweist, sondern ganz konkret auf die Art und Weise, wie es uns erscheint”, in dem Sinne, den wir meinen, wenn wir “meine Welt” oder “unsere Welt” sagen. (Oliver O’Donovan, Finding and Seeking, 73)

In jedem kulturellen Moment gibt es bestimmte allgemeine Festlegungen und Annahmen, die bestimmen, was Menschen sinnvollerweise denken, sagen und tun können.

In der eigenen Definition spricht Watkin von sechs Dimensionen:

  1. Sprache, Ideen und Geschichten: Die Wörter, Konzepte, Symbole und Erzählungen, die wir verwenden, um unseren Erfahrungen einen Sinn zu geben und um Muster in unserem Leben und Denken zu schaffen.
  2. Zeit und Raum: Die Art und Weise, wie wir die Zeit rhythmisieren, ist eine Reihe von Figuren, von der 24-7-Gesellschaft bis zur modernen Ideologie des historischen Fortschritts.
  3. Die Struktur der Wirklichkeit: Ob wir wie die westliche Moderne denken, dass wir in einem flachen “immanenten Rahmen” leben, in dem es nichts jenseits der Welt gibt, die wir sehen und berühren
  4. Verhaltensweisen: Kultur drückt sich in körperlichen Gewohnheiten oder “Liturgien” aus und wird von ihnen geprägt.
  5. Beziehungen: Wir strukturieren und rhythmisieren unser Leben und unsere Welt durch Beziehungen im Familien- und Freundeskreis und durch Beziehungen in sozialen Medien mit ihren eigenen Codes und Normen.
  6. Objekte: Nicht zuletzt wird unsere Welt durch die Güter und Objekte geformt, die uns umgeben.

Dabei sind die einzelnen Figuren nicht vergleichbar mit Kleidern, die wir uns an- und ausziehen, sondern “sind so etwas wie unsere Nahrung, die wir in uns aufnehmen und aus der unser Körper gemacht ist”. Jede von ihnen ist “umfassend”, aber keine von ihnen ist “erschöpfend”.

Gleichermassen prägt die Bibel als göttliche Ansprache an uns mit demselben Set an Figuren, beispielsweise:

  1. Sprache, Ideen und Geschichten: das biblische Konzept des Bundes oder wiederholte Erzählungen, die das Motiv “die Ersten werden die Letzten sein” verkörpern
  2. Zeit: der Rhythmus von Verheißung und Erfüllung
  3. Raum: die biblische Vorstellung von Gott als Herrscher über den ganzen Raum, nicht wie einer der lokalisierten Götter der alten Welt
  4. Wirklichkeitsstruktur: die biblische Unterscheidung zwischen dem Reich dieser Welt und dem Reich Gottes
  5. Verhalten: die ersten Christen, die am Tag des Herrn zusammenkommen, um zu singen, das Brot zu brechen, zu beten und belehrt zu werden
  6. Beziehungen: die Einheit aller Gläubigen in Christus und Gott als Gesetzgeber
  7. Objekte: der Ort und die Architektur der Stiftshütte oder die verfügbaren Transportmittel für die Missionsreisen des Paulus

Der Prozess der Beeinflussung beschreibt Watkin in Anlehnung an Paul Ricoeur dreifach:

  • Präfiguration: Die Welt, die ich als Leser an den Text herantrage.
  • Konfiguration: Die Art und Weise, in der der Text mit seinen eigenen Figuren an meinen vorgefertigten Erwartungen und Annahmen “herumspielt”.
  • Refiguration: Die Integration der Textwelt in die Welt des Lesers

Zitat der Woche: Religion als reine Herzensangelegenheit

Herman Bavinck analysiert in seiner 8. Vorlesung “Offenbarung und religiöse Erfahrung” treffend die ideengeschichtliche Entwicklung des Westens:

Allen (Versuchen seit der Aufklärung ist) gemeinsam, dass sie sich keiner sogenannten äußeren Autorität, keiner objektiven Offenbarung, keinem gesprochenen Wort Gottes mehr unterwerfen, sondern versuchen, Gott durch den Menschen zu finden.

… Wenn man von Erlebnis in der Religion spricht, meint man damit, dass Religion durch und durch eine persönliche Angelegenheit ist oder jedenfalls werden muss … wenn das Herz berührt wird und eine persönliche Gemeinschaft zwischen Gott und unserer Seele entsteht.

… Religion ist zweifellos eine Herzensangelegenheit, aber sie kann nicht von jeder objektiven Gotteserkenntnis getrennt werden.

Übersetzt aus Herman Bavinck. Philosophy and Revelation. A New Annotated Edition. Hendrickson, 2018. S. 295f.

Input: Zurück zu den goldenen Anfängen des Christentums?

Ab und an höre ich das Argument des «goldenen Anfangs». Im «primitiven» (sprich ursprünglichen) Zustand der Christenheit sei das Neue Testament noch «unverdorben» rezipiert und danach gelebt worden. Daraus entsteht die Legitimation für das Bedürfnis nach einer Rückkehr zur ursprünglichen Form des Christentums (um nicht zu sagen manche Projektion, wie es damals gewesen sein sollte). Hier erscheint mir die Haltung der Reformatoren gesünder:

Eine positive Aufnahme der altchristlichen Theologie ist einerseits seit der Reformation fester Bestandteil reformierter Konfessionen und Theologie. Diese positive Rezeption wurde andererseits von einer kritischen Haltung gegenüber den Kirchenvätern oder zumindest von einem ausgeprägten Bewusstsein ihrer Grenzen begleitet, die durch verschiedene Erwägungen motiviert sein konnte, aber angesichts des reformierten Grundsatzes, dass allein die Bibel in Fragen des Glaubens und des Verhaltens maßgebend ist, in jedem Fall unvermeidlich war. …

Die theologische Kontinuität zwischen der reformierten Theologie und den Kirchenvätern zeigt sich am deutlichsten in der Übernahme frühchristlicher Glaubensbekenntnisse … und in der Tatsache, dass reformierte Theologen ihre eigenen Bekenntnisse mit Hilfe von Zusammenstellungen patristischer Zeugnisse kommentierten und erläuterten … Das Streben nach Katholizität, das sich in zahlreichen anderen Publikationen … und in der entsprechenden Berücksichtigung der patristischen Irrlehren äusserte .., hatte jedoch offensichtliche Grenzen und wurde von Vorbehalten und Kritiken begleitet, die seit dem 16. Jahrhundert formuliert wurden. (Aus: Reformed Theology and the Church Fathers, enthalten in The Oxford Handbook of Reformed Theology, S. 9f)

Input: Denker lesen, die meinen Überzeugungen entgegenstehen

Christopher Watkin gehört zu meinen Entdeckungen der letzten Zeit. Ich empfehle den zweiteiligen Podcast von Grace in Common (Teil ITeil II) zur Einführung. Sein neustes Werk «Biblical Critical Theory» wird viel gerühmt. Zur Einführung empfehle ich drei Rezensionen (Christopher Watkin Against the PagansWatkin’s “Biblical Critical Theory”What is Biblical Critical Theory? A Review Article). Es sind zudem einige ergiebige Interviews verfügbar (Michael BirdMark WardBaker Academic).

Watkin erzählt (Minuten 16-17), dass er in der Bibliothek der von Ranald Macauley, dem Schwiegersohn von Francis Schaeffer gegründeten Organisation «The Christian Heritage» in Cambridge (Interviewweiteres InterviewRekindling the Vision: Christians in the Post-Christian West), ein Buch nach dem anderen aus dem Regal zog und las. Seine Fragestellung bestand weniger darin, welchem theologischen System dieses zugehörig war, sondern wie er einen vom christlichen Glauben geprägten Denkrahmen entwickeln konnte – als Voraussetzung für einen eigenständigen Standpunkt in seinem Fachgebiet der Philosophie. Francis Schaeffer nennt er als frühen Einfluss, von dem er vor allem das Anliegen und das Muster der Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Philosophie und Kunst übernehmen konnte (bei inhaltlichen Differenzen).

Sehr schön begründet Watkin die Notwendigkeit eines Standpunkts ausserhalb des Textes (gegen die postmodernistische Ansage; ab Minute 20). Es gilt zu lernen, die Fragen, die ein Autor stellt, genau zu erfassen: Was will er beantwortet haben? Sonst besteht die Gefahr eines Rundumschlags. Watkin repräsentiert vorbildlich die Präzision und die Aufrichtigkeit, auch bei fremdartigem Gedankengut mit dem Gegenüber zu ringen. Dies bedeutet – wie er es bei einigen Philosophen selbst erfuhr (siehe seine Einführungen zu Michel FoucaultJacques DerridaGilles Deleuze) – einen Denker hartnäckig zu studieren und über die Zeit in dessen Gedankenführung hineinzukommen. Dies ist wohl zu unterscheiden von der ungeprüften Übernahme unbiblischer Konzepte. Diese kann sich aber gerade dann vollziehen, wer sich einer Auseinandersetzung entzieht.

Watkin hat daraus die Methode der Diagonalisation entwickelt, die er so definiert:

Wenn wir die Wahl zwischen zwei Lagern oder Positionen in unserer Kultur haben, entscheidet sich die Bibel häufig für keines von beiden und präsentiert uns etwas, das reichhaltiger ist als beide, eine subtilere Lösung, die sich keine der beiden Positionen hätte vorstellen können. Immer wieder stellen wir fest, dass die biblischen Figuren die Bandbreite der Optionen, die uns präsentiert werden, überschreiten, nur um bei näherer Betrachtung festzustellen, dass diese Optionen selbst verzerrte und zerstückelte Versionen biblischer Ideen sind. (Biblical Critical Theory, XXXIX)

Ich werde mich bald in die Reihe der Leser einreihen – wie Rebecca McLaughlin oder N. Gray Sutanto. Gelernt aus den bisherigen Audios habe ich vor allem eines: Die unglaublich aufmerksame, das Gegenüber wertschätzende, freudig entdeckende Art und Weise von Watkin. Er möchte keine schnellen Antworten, sondern den Hintergrund und Intention einer Fragestellung genau kennenlernen. Auch die Antworten sind geprägt von einer struktuierten Art und Weise, der es sich lohnt nachzueifern.

Zitat der Woche: Wer einmal einem Menschen wirklich zugehört hat, muss fast alle seine Theorien austauschen

… Freud hat in seinem Leben wenigstens einige Male zugehört. (nach Elias Canetti)

Oder: Für Menschen, die als einziges Werkzeug einen Hammer besitzen, wird jedes Problem zum Nagel. (Chinesisches Sprichwort)

Vor Jahren wurde ich durch den Philosophen Gianfranco Schultz (siehe dessen Einführung zu Alvin Plantinga) auf die Philosophische Praxis (Angebot im Raum Zürich) aufmerksam gemacht. Der philosophische Praktiker Gerd Achterbach(* 1947) definiert sie folgendermassen (Hervorhebungen von mir):

Philosophische Lebensberatung in der Praxis des Philosophen etabliert sich gegenwärtig als Alternative zur Psychotherapie. Sie ist eine Einrichtung für Menschen, die Sorgen oder Probleme quälen, mit ihrem Leben „nicht zurechtkommen” oder meinen, sie seien irgendwie „steckengeblieben”; die von Fragen bedrängt werden, die sie weder lösen noch loswerden; die sich in der Prosa ihres Alltagslebens zwar bewähren, in vorerst unbestimmter Weise aber „unterfordert” fühlen – weil sie etwa ahnen, daß ihre Lebenswirklichkeit ihren Möglichkeiten nicht entspricht. 

In der Philosophischen Praxis melden sich Menschen, denen es nicht genügt, nur zu leben oder bloß so durchzukommen, die sich vielmehr Rechenschaft zu geben suchen über ihr Leben und sich Klarheit zu verschaffen hoffen über dessen Kontur, sein Woher, Worin, Wohin. Ihr Anspruch ist nicht selten, einmal über die besonderen Umstände, die oftmals sonderbaren Verstrickungen und den seltsam uneindeutigen Verlauf ihres Lebens nachzudenken.

Dabei ist es nahezu nie die Kantische Frage „Was soll ich tun?”, die sie bewegt, häufig hingegen die Frage Montaignes – und die lautet: „Was tue ich eigentlich?” 

Dabei mag im Hintergrund die älteste philosophische Weisheit als Einsicht vorhanden sein, die Maxime des Sokrates nämlich, wonach nur ein geprüftes Leben lebenswert sei.

Womöglich meldet sie sich als schemenhafte Befürchtung, ein bloß so hingelebtes Leben sei im emphatischen Sinne ein „nicht wirklich gelebtes” Leben, ein „vertanes”, irgendwie „verpasstes”, zerstreutes, um sich selbst gebrachtes Leben.

Ich sehe mein eigenes berufliches Wirken auf dieser Linie. In einem Vortrag (2005) stellt Achterbach die philosophische Praxis der Psychoanalyse Freuds gegenüber.

(Minute 23-24) Nach dem Philosophen Hegel geht es darum, sich aus der Sicht eines anderen zu sehen, gewissermassen sich als gesehen zu sehen, sich als gedacht zu denken, sich als gemeint zu meinen. Die Psychotherapie hingegen «zoomt» auf die einzelne Person und deren Innenleben mittels einer mehr oder minder festgelegten Theorie. Der philosophische Praktiker stellt die übergeordnete Frage: Worauf kommt es an? Am Beispiel der Paartherapie: Gelebt laufen viele Therapien auf die Trennung heraus. Weshalb ist dies so? Inwiefern spielt der Therapeut da mit hinein? Weshalb scheinen therapeutische Settings darauf angelegt zu sein? Nach dem Philosophen Hegel geht es darum, sich aus der Sicht eines anderen zu sehen, gewissermassen sich als gesehen zu sehen, sich als gedacht zu denken, sich als gemeint zu meinen. 

(dazu passend, Minute 48) Die Psychoanalyse arbeitet retrospektiv das durch, was in früheren Phasen nicht bewältigt werden konnte. Eines kann sie jedoch nicht: Sie kann nicht entscheiden, ob jemand gut daran tut, einem Patienten eine solche Leistung abzuverlangen. Am Beispiel einer aktuellen Untersuchung der FAZ zu den inhaltlichen Schwerpunkten von Erziehungszeitschriften: Es ging darum, wie man beim Brüten des Nests es schafft, möglichst viele Pausen vom Brüten zu bekommen – konkret: Wie kann ich mein Kind parkieren, wenn ich in London shoppen gehe?

(Minuten 30-35) Wer mit vorgefertigten Theorien eine Person «analysiert», verlässt den Rahmen der Begegnung und wird vorfinden, wonach er gesucht hat. Am Beispiel von Freuds Analyse seines 18-monatigen Enkels Ernest (in Jenseits des Lustprinzips): Er interpretierte die Reaktion auf die Trennung von der Mutter – mit Geräuschen Klötzchen zu werfen – als lustvollen Racheakt. Frage: Bestätigt der Einzelfall die Theorie oder muss sie gar eine geltungssüchtige Theorie (und deren Begründer) bestätigen? Umgekehrt: Die Angemessenheit eines Einzelfalls kann eine Theorie erschüttern bzw. ihn zensieren. Freud war als Forscher hingegen auf wissenschaftsförmige Theoriebildung aus. Diese sollten spätere Analytiker mit deren Patienten anleiten. Resultate, die aus der Praxis einiger gewonnen wurden, sollten für die Praxis anderer verwendet werden. Die Erwartungsgewissheit selektiert Erfahrung.