Ich such’ mir eine neue Kirche (6): Hören – aber auf was?

Über das zu predigen, was der Bibeltext wirklich aussagt (auch „exegetisches Predigen“ genannt), bedeutet nicht einfach nur, einen mündlichen Kommentar zu einer Schriftstelle abzugeben. Vielmehr machen solche Predigten den Inhalt und die Bedeutung eines bestimmten Schriftabschnitts zu ihrem zentralen Thema. Wenn eine Gemeinde gesund sein soll, dann müssen die Pastoren und Lehrer entschlossen sein, die wirkliche Bedeutung der Schrift zu erfassen und darauf die Entwicklung und das Handeln der Gemeinde aufzubauen.

Daraus ergibt sich eine wichtige Folgerung für jedes Gemeindemitglied. Ebenso wie das, was ein Pastor predigt, von der eigentlichen Bedeutung der Schrift ausgehen sollte, so sollten auch die Art und Weise, wie ein Gemeindemitglied zuhört und das Gesagte aufnimmt, von der eigentlichen Bedeutung der Schrift bestimmt sein. Wenn wir einer Predigt zuhören, dann sollten wir darin nicht in erster Linie nach praktischen Ratschlägen suchen, wie dieses und jenes zu tun ist, obwohl die Schrift natürlich auch viel über Fragen des Alltags zu sagen hat. Wir sollten auch nicht nach Botschaften suchen, die unser Selbstvertrauen stärken oder die uns zu politischem oder sozialem Engagement auffordern. Vielmehr sollten wir als Mitglieder einer christlichen Gemeinde danach streben, die Stimme und die Botschaft zu hören, die Gott in seinem Wort offenbart. Wir sollten auf das hören, was er in seiner allwissenden Liebe zu seiner Ehre und für uns zum Segen geschrieben hat.

Was genau meine ich also, wenn ich sage, wir sollen auf das hören, was die Bibel wirklich sagt? Ein solches Hören erfordert, auf die wahre Bedeutung einer Schriftstelle zu achten und zu akzeptieren, dass diese Bedeutung der Hauptgedanke ist, den wir für unser individuelles und gemeinschaftliches Leben als Christen daraus mitnehmen sollen.

Aus: Thabiti M. Anyabwile. Was ist ein gesundes Gemeindemitglied? cap-books: Heiterbach-Baihingen 2010.

Könnte es sein, dass wir mehr auf “stimmiges Design” und “stimmige Botschaften”  spezialisiert sind als darauf zu überprüfen, ob die zentralen Gedanken der Predigt auch die zentralen Gedanken der biblischen Abschnitte ist? Es geht noch weiter: Oftmals stehen gar nicht mehr biblische Gedanken an erster Stelle, sondern der Redner pflastert an die eigenen Gedanken einige Verslein…

Heilen wie Jesus – nicht als Humbug?

Gestern debattierten im “Zischtigs-Club” eine Runde über den Auftritt von Bonnke am Jubiläumsanlass von ICF. Die Positionen der Gäste:

Leo Bigger: «Vor Jahren habe ich Reinhard Bonnke gehört und war beeindruckt von seiner leidenschaftlichen und bildhaften Art zu predigen. Aus diesem Grund haben wir ihn jetzt in die Schweiz eingeladen. Persönlich erlebte ich Heilung, als ein alter Mann ein schlichtes Gebet für mich betete und ich eine Woche später merkte, dass meine Krankheit weg war.»

Rita Fuhrer: «Wenn Menschen leiden, grosse Schmerzen und Angst haben, sind sie sehr empfänglich für Heilsbotschaften. Man ist versucht, nach jedem Strohhalm zu greifen. Aber es gibt viele Scharlatane, die einem Kranken schliesslich mehr schaden als helfen können.»

Daniel Hell: «In der Medizin sind Placebo-Effekte ein bekanntes Phänomen. Auch durch Massensuggestion können Menschen geheilt werden. Nicht immer entspricht das temporäre Hochgefühl einer nachhaltigen Heilung. Problematisch sind die Heilsversprechen.»

Franz Kreissl: «Wunder geschehen häufiger als man denkt. Woher weiss man, dass Gott die Ursache von Heilungen ist? Das ist die Kernfrage der Nichtgläubigen.»

Andreas Lange: «Wenn jemand von Herzen betet, passieren viele Dinge, auch Heilungen von Krankheiten. Reinhard Bonnke hat ein grosses Charisma, das ist nur dank der Strahlkraft Jesu zu erklären.»

Hugo Stamm: «Niemand kann heilen. Prediger, die Heilungen versprechen, spielen mit der Angst und Not der Kranken. Bei Heilungsgottesdiensten setzt sich der Pastor unangenehm und anmaßend in Szene.»

Ich such’ mir eine neue Kirche (5): Ungelöster Knopf.

Heute Morgen wachte ich auf, und ich machte mir (mit meiner Frau zusammen) Gedanken zu einer ‎für mich ungelösten Herausforderung: Was unternehme ich, wenn mein Ältester in einem oder zwei ‎Jahren sagt: „Der Gottesdienst langweilt mich. Ich will nicht mehr kommen.“ Die Gemeinde-‎Sozialisierung der nächsten Generation gehört für mich zu den ungelösten Knöpfen.

Nicht dass ihr ‎mich falsch versteht: Die Sozialisierung findet statt (siehe mein Post „Ich will Znüni“). Sorge bereitet ‎mir viel mehr, wie sie stattfindet. Das No-Go-Kriterium ist die Lange Weile, sprich, die Anzahl ‎Reize pro Zeiteinheit, welche die gewohnte Grenze der Aufmerksamkeit überschreiten. Dasselbe ‎Muster erkenne ich ja in der Erziehung: Das oberste Gebot ist „Hat es dem Kind gefallen?“ In der ‎Konsequenz bedeutet dies, dass wir dem Kind alle Steine aus dem Weg räumen und ihm jede ‎Menge bieten wollen. Nur: Hindernisse sind Anstösse zum Wachstum! Wir leben wir Kindern den ‎Glauben vor, wenn wir ihn mit einem Du-bekommst-alles-geliefert-und-wenn-es-dir-nicht-mehr-passt-‎dann-legen-wir-noch-eins-drauf Ansatz begegnen?

Analyse gut, Alternativen gefragt. Was sind ‎meine Optionen?

  • Variante 1: Das Kind bleibt ab 10 Jahren den Gottesdienst zunehmend fern.
  • Variante 2: Man bleibt, bis die Kinder 10, 12 Jahre alt sind, um dann in eine grössere Gemeinde ‎zu wechseln, die ein besseres Programm bietet.
  • Variante 3: Man sucht ein passendes Freizeit-‎Programm (Jungschar), und die Kinder bleiben, bis sie Junge Erwachsene sind, wenigstens den ‎parakirchlichen Organisationen erhalten.
  • Variante 4: Beziehe die Kinder mit ein in ‎Gottesdienstplanung und -durchführung. (Nur: Das Tun erlöst die Kinder nicht, nur der Heilige Geist ‎kann dieses Werk tun.)
  • Variante 5: Gründe eine Hauskirche, sprich eine Mini-Gemeinde mit ‎einigen wenigen Personen aus deinem nächsten geografischen Umfeld.
  • Variante 6: Du schränkst ‎den Rahmen noch mehr ein und beschränkst dich auf die eigene Familie.
  • Variante 7: Bringe dich ‎als Leiter ein, nicht nur für die eigenen Kinder, sondern auch für die nächste Generation.

Mal ‎ganz losgelöst von den Varianten. Was würde ich mir wünschen? Es kommt mir ein alt bewährtes ‎zweiteiliges Konzept in den Sinn: Meine Kinder nehmen am normalen Gottesdienst teil. Schluss mit ‎fein granuliertem, altersgerechtem, suchersensiblen und was sonst noch-Programm. Umgekehrt ‎nehmen die Erwachsenen alle auch am Biblischen Unterricht teil – zusammen mit den Kindern. Ich ‎befürchte allerdings, dass wir Erwachsene uns nicht auf ein solches Modell einlassen wollen. Denn ‎es wäre ausserhalb unserer Komfortzone.‎

Ich such’ mir eine neue Kirche (4): Ein gutes Gefühl und authentische Beziehungen

Michael Horton nimmt in diesem Beitrag Bezug auf zwei zentrale Problemkreise:

  1. Überbetonung des Gefühls auf Kosten der Lehre
  2. Authentische Beziehungen anstelle der Guten Nachricht

Wir sind vollkommen abgelenkt rechts, links und in der Mitte. Kinder, die in evangelikalen Kirchen aufwachsen, wissen genauso wenig über die Grundlagen des christlichen Glaubens, wie Jugendliche ohne kirchliche Bindung. Sie bewohnen zunehmend eine kirchliche Welt, die aber immer weniger vom Evangelium durch christozentrische Katechese, Predigt und Sakramente (die Mittel, die Jesus einsetzte für die Jüngerschulung) geformt wird. Die Lieder, die sie singen, sprechen meist das Gefühl an, statt dazu zu dienen, »das Wort Christi reichlich unter ihnen wohnen« zu lassen (Kol 3,16). Und ihre privaten Andachten sind weniger von der Praxis gemeinsamen Gebets und Bibellesens geformt als in vergangenen Generationen. Auf dem Papier muss sich nichts verändern: Sie können noch immer »konservative Evangelikale« sein. Doch das spielt eigentlich keine Rolle mehr, weil die Lehre egal ist. Und das bedeutet, dass der Glaube egal ist. Es funktioniert – das ist alles, was für den Augenblick zählt. Also macht euch an die Arbeit!

So sind nun Menschen dazu aufgerufen, die »gute Nachricht« zu sein und die Mission Christi dadurch erfolgreich zu machen, dass sie »in Beziehungen« und »authentisch« leben. Wo das Neue Testament ein Evangelium verkündigt, das Leben verändert, ist nun unser verändertes Leben das »Evangelium«. »Wir predigen nicht uns selbst, sondern Christus« (2Kor 4,5) ist ausgetauscht worden gegen einen beständigen Appell an unsere persönliche und kollektive Heiligkeit als die Hauptattraktion. Der Guru des Kirchenmarketing George Barna ermutigt uns, auf die Menschen ohne kirchliche Bindung auf der Grundlage unseres Charakters zuzugehen: »Wonach sie suchen, ist ein besseres Leben. Kannst du sie zu einem Ort oder zu einer Gruppe von Menschen führen, die ihnen die Bausteine eines besseren Lebens liefern? Bringe nicht das Christentum als ein System von Regeln ein, sondern als eine Beziehung mit dem Einen, der durch Vorbild führt. Dann suche nach bewährten Wegen, um Bedeutung und Erfolg zu erreichen.« Ich unterstelle ganz und gar nicht, dass wir nicht dem Vorbild Christi folgen sollten oder dass die Kirche nicht Vorbilder und Mentoren haben sollte. Was ich aber nahe lege ist, dass Jüngerschaft bedeutet, andere zu lehren, und zwar sie so gut zu lehren, dass selbst dann, wenn wir als Vorbilder schwanken, die Reife ihrer eigenen Jüngerschaft nicht versagen wird, weil sie in Christus und nicht in uns gegründet ist.

Was hat dies mit der Serie zu tun?

  1. Wer sein gutes Gefühl zur Limite der Kirchenzugehörigkeit macht, hat über kurz oder lang genug.
  2. Wer authentische Beziehungen zur Grundlage der Kirchenzugehörigkeit macht, wird über kurz oder lang ent-täuscht.

Erfolg und Demut – eine Lektion von George Whitefield

Der grosse Erweckungsprediger George Whitefield (gest. 1771) war ein von Gott begabter Redner. Ergreifend, wie er im ‎Erfolg demütig blieb. Einige Zitate aus der Biografie von Benedikt Peters ‎‎(hier geht es zum Gratisdownload):‎

  • Volle Kirchen – nichts ohne ihn: Die Kirchen sind an den Werktagen so voll wie am Sonntag, und am Sonntag so voll, daß ‎viele, sehr viele wieder umkehren müssen, weil sie keinen Platz finden. Lieber Mr. Harris, betet, daß Gott mich immer ‎demütig halte und ich die Überzeugung nie verliere, daß ich ohne Ihn nichts bin, und daß alles Gute, das auf der Erde getan ‎wird, von Gottselbst getan wird!‎
  • Seine Haltung zum Leid: Wenn der Christ leidet, lernt er am meisten; denn Leiden bricht den ‎Willen, entwöhnt uns der Kreatur, prüft das Herz, und durch Ungemach lehrt Gott Seine Kinder…‎
  • Schwer krank: Ich war, wie ich meinte, am Rande der Ewigkeit. Ich hatte den Himmel in mir ‎und dachte an nichts mehr in dieser Welt, sondern sehnte mich ernstlich, aufgelöst zu werden und ‎zu Christus zu gehen. Aber Gott gefiel es, es anders zu lenken, und ich füge mich, wiewohl ich ‎mich fast nicht mit dem Gedanken aussöhnen kann, wiederum in dieses Jammertal ‎zurückzukehren.‎
  • In Seenot: Es gefällt Gott, ungünstige Winde zu schicken … Er befähigt mich dennoch, Ihm Dank zu sagen, wozu ich ‎viel Grund habe, da der Geist Gottes mir wahrlich beigestanden hat.‎
  • Im Sturm: Ich hätte mich gewundert, hätte Gott nach solch überströmendem Erfolg nicht einen Dorn für das Fleisch ‎gesandt. Möge ich lernen, still zu erdulden und auch Deinen Willen zu tun, o Gott!‎
  • Nach einer stürmischen Überfahrt: Sobald ich das Land gesichtet hatte, versammelten wir uns zum ‎gemeinsamen Dankgebet und Lobpsalm. Ich begann schon mit Wonne über die hinter uns liegenden Nöte zu sinnen. Am ‎Ende unseres Lebens wird es genauso sein. Die Stürme und Bedrängnisse dieser notvollen Welt werden uns den Himmel ‎und die ewige Ruhe doppelt süß erscheinen lassen.‎
  • Nach gehässigen Anwürfen von neidischen Amtskollegen: Du wirst für mich antworten, ‎mein Herr und mein Gott. Eine kleine Zeit, und dann werden wir vor dem Richterstuhl Christi ‎erscheinen, und dann wird meine Unschuld so klar scheinen wie das Licht und so hell hervortreten ‎wie der Mittag.‎

Ich such’ mir eine neue Kirche (3): Ich will Znüni.

Wir kehren zurück in die Niederungen der Gegenwart, in meinen ganz normalen Sonntag. Die Sonntagmorgen vor dem Gottesdienst gehört zu den anspruchsvollsten Zeiten der Woche. Denn: Die Führung in der Familie ist – im Unterschied zu den Wochentagen – bei mir. Wir haben den Anspruch einen Ruhetag einzuschalten. Meine Söhne sind meist schon früh wach (und wenn nicht, dann wecken sie sich gegenseitig). Meiner Frau möchte ich noch einige Minuten mehr Ruhe gönnen (und sie mir umgekehrt auch). An manchen Sonntagen sind wir ausserdem in der Kirche im Einsatz, müssen Dinge absprechen und die letzten Vorbereitungen treffen. Wir frühstücken gemeinsam, und wir ziehen alle frisch an. Diese Kumulation von ausser-gewöhnlichen Elementen hat zur Folge, dass die Wahrscheinlichkeit ansteigt, dass meine Nerven blank liegen.

So verliess ich heute Sonntag das Haus um halb Neun, meine Frau blieb zurück, um noch einige Momente der Ruhe zu haben. Die Wegstrecke bin ich damit beschäftigt, einerseits die vielen Fragen der Buben zu beantworten, und andererseits untereinander für Frieden zu sorgen. Wir legen einen Rast auf dem Spielplatz ein. Nachdem ich mich um friedliches Spiel bemüht habe (ehrlich, du kannst nicht einfach davon ausgehen, dass die Kinder alles selber regeln), finde ich Momente für einige Verse aus der Bibel und ein paar Notizen.

Auf dem Weg treffen wir einen alten Freund an, der eine andere Gemeinde besuchen wollte, und dann mit uns mitkommt in den Gottesdienst. Wir kommen in der Kinderecke ins Gespräch. Er äussert grundsätzliche Zweifel am religiös inszenierten Bild von manchen frommen Menschen. Manches hätten wir uns einfach zurecht gelegt. Gebet? Das ist doch (ehrlicherweise) eine Einwegkommunikation, und kein Gespräch mit Gott. Wer redlich an die Fragen herangehe, werde doch zugeben müssen, dass wir uns manches nur – einreden.

Dann beginnt der Gottesdienst. Eine Latino-Truppe ist bei uns zu Gast. Gott sei Dank, sie kommen von Südamerika, um im geistlich toten Europa Streiter und Geld für die Mission zu sammeln – und natürlich um auf Gottes Herz für die Mission aufmerksam zu machen. Umrahmt ist das ganze mit äusserst beschwingter und emotional aufpeitschender Musik. Wir singen Liebeslieder für Gott.

Mein Zweijähriger, dem ich die Vorstellung nicht zu lange zumuten möchte (für die anderen bete ich und denke, dass die unter 30-minütige Einlage durch ihr junges Gehör wieder regeneriert werde), wird nach einigen Liedern unruhig. Ich gehe aus dem Gottesdienstraum und freue mich über das Erscheinen meiner Frau und dem Jüngsten. Wir gehen in die Krabbel-Ecke, damit sie stillen kann. Mein Zweitjüngster dreht auf. Nachdem es ihm langweilig geworden war (vielleicht ist es auch fehlende Gewöhnung, ich war als Kind immer den ganzen Gottesdienst dabei), äussert er nun lautstark seinen Wunsch: “Ich will Züni.” Das genau ist nun der Höhepunkt des Gottesdienstes für ihn. Er möchte am liebsten ans Buffet und Kuchen essen. Das sagt er jeden Sonntag.

Mir geht durch den Kopf: “Wir wissen ja gar nicht mehr, nach was wir Hunger haben sollen.” Wir schwingen einen Gottesdienst lang mit und freuen uns an den professionellen Einlagen: Musik, Film, Zeugnisse, Kurzpredigt und Appell. Nach spätestens einem Tag (oder schon nach einigen Stunden) hat uns der nüchtern-kalte Schweizer Alltag wieder eingeholt. Der Aufruf “Wir brauchen dich und dein Geld” ist wieder verhallt.

Mein Zweijähriger ist im Wartemodus. Er will ständig aus der Türe gehen. Anstatt mit den vielen Spielsachen zu spielen, nimmt er wahllos dies und das und beginnt damit zu lärmen. Er wartet auf Besseres, sprich, die Mahlzeit. Ich erzähle ich zwei Geschichten, doch die Aufmerksamkeit lässt (im Unterschied zu sonst) zu wünschen übrig. 

Erstaunt bin ich immer wieder, wie je nach Art des Gottesdienstes ein ganz anderes Publikum zugegen ist. Man könnte sagen, es ist ausgewechselt. Der äussere Rahmen steht jedenfalls: Freundliches Lächeln – ein schwacher Abdruck der Liebe untereinander, wie sie Jesus als Kennzeichen der Christen hinstellt und nach der wir uns alle sehnen. Mein Sohn signalisiert mir: Die Gemeinde ist ein Ort, an dem ich wählen und bestimmen kann. Man schränkt mich nicht ein. (Sorry, da kommt mir die ganze Geschichte mit der Konsumkultur unweigerlich in den Sinn. Das “konsumistische Manifest” lässt grüssen.)

Der fünfte Bub (108): Ein weiter Weg

Sie haben sich zum Besuch zu Oma aufgemacht. Nach dem Mittagsmahl, ohne Mittagspause. Der Jüngste muss eine Mahlzeit aussetzen. Vorbei ist es mit der Ruhe. Er schreit auf dem Weg mit kurzen Unterbrüchen. Ein in sich gekehrter älterer Herr meint trocken: “Sie müssen halt mit ihm reden.” (Ganz analog dem üblichen Verhalten: Den Müttern ist es peinlich, dass ihr Kleines schreit, und sie beginnen vor lauter Nervosität zu sprechen. Der öffentliche Raum ist zwar anonym, doch es gelten gewisse Regeln. Zum Beispiel: Ein Kleinkind darf nicht schreien.) Der weite Weg hatte seinen Preis: Der Kleinste hatte Fieber, es dauerte einen Tag, bis er sich wieder erholt hatte.

Ich such’ mir eine neue Kirche (2): Szenenwechsel.

Szenenwechsel. Wir drehen das Rad der Zeit einige Jahrzehnte zurück (die Zeit spielt keine Rolle), und wir wechseln in die Westminster Chapel nach London. Der Enkel von Martin Lloyd-Jones beschreibt, wie er im Rückblick die Gottesdienste erlebte. Wohlgemerkt: Lange Predigten, ohne Chor, und man blieb den ganzen Sonntag beisammen.

Eines der anderen Dinge, welche die Westminster Chapel ganz einzigartig machte, war die ungewöhnlich mannigfaltige Zusammensetzung der Gemeinde Das ist eigentlich sogar eine massive Untertreibung. Ich erinnere mich genau, wie in meiner Kindheit die Gottesdienste von Universitätsprofessoren ebenso wie von Geisteskranken und von allen, die dazwischenlagen, besucht wurden! Der Besuch in der Chapel war, was die Leute betraf, denen man dort begegnen würde, ein nicht vorhersagbares Ereignis.

Keine einzige Menschengruppe hätte weniger homogen sein können, und dennoch war das Zusammengehörigkeitsgefühl ausserordentlich stark. Es herrschte eine erwartungsvolle Stimmung, in der man von Gott hören und sich an dem, was die Bibel sagt, erfreuen wollte. … Die Verkündigung des Doktors konnte von jedem verstanden werden, weshalb auch alle möglichen Leute kamen, oftmals aus beträchtlichen Entfernungen. Manche waren freiberufliche Akademiker. … Eine andere war aber auch eine eigenartige alte Dame, die wir alle unter dem unglücklichen Namen “verrückte Annie” kannten, eine Dame, die kontinuierlich Wahnvorstellungen hatte. … Viele Gemeindeglieder waren Ausländer. Die Chinesen waren in grosser Zahl vertreten… Die Tatsache, dass der Doktor aus Wales stammte, spielte dabei eine grosse Rolle. Im Gegensatz zu anderen behandelte er ausländische Besucher genauso wie alle Menschen, indem er sie weder ablehnte noch sich ihnen gegenüber herablassend verhielt. … Es war beinahe ein Vorgeschmack des Himmels, während des Kirchenbesuchs zu sehen, wie all jene Menschen aus all diesen unterschiedlichen Kulturen zusammenkamen, um Gott anzubeten und sein Wort zu hören.

Der Doktor vernachlässigte auch die pastorale Seite seines Dienstes nicht. Für viel ist diese genauso sehr Bestandteil ihrer Erinnerungen wie die Sonntagspredigten. Da seine Gemeindeglieder aus der weiten Umgebung anreisten, war es für ihn physisch unmöglich, hinauszufahren und sie alle zu besuchen. Also kamen sie zu ihm, in seine Sakristei, einen Raum hinter der Kanzel. Er trug immer dafür Sorge, dass man ihm nach dem Gottesdienst sprechen konnte.

… Doch das Leben in der Chapel bestand nicht nur aus dem Besuch von Predigtgottesdiensten. Während des Krieges war es zu gefährlich, um die Mittagszeit nach Hause zu gehen, sodass die Küchen auf den Vorschlag meiner Grossmutter hin genutzt wurden und die Leute zum Mittagessen bleiben konnten. Dies funktionierte sehr gut, und diese Praxis wurde während der gesamten Wirkungszeit des Doktors beibehalten.

… Jeder hatte seinen angestammten Platz beim Mittagessen, sass bei denselben Leuten, und dennoch sprach jeder bald mit jedem. Viele Familien assen Folienkartoffeln, die wir immer vor dem Vormittagsgottesdienst in einen grossen Ofen hineinschoben. … Da es so viele Kartoffeln aus unterschiedlichen Familien gab, musste jede Kartoffel mit einem eigenen Zeichen signiert werden, um sie von den anderen zu unterscheiden…

Jetzt bringst du wieder einen Super-Prediger. Vorsicht: Kaum Lobpreis, keine dauernden Beispiele aus dem Leben des Predigers, lange Predigten – in der Regel über einen Bibelvers, verknüpft mit einem Panorama der ganzen Bibel, kein Welcome-Drink, aber… Ja, was denn genau? Während ich dies schreibe, kommen mir die Tränen. Der Heilige Geist machte sein Wort lebendig und fügte Menschen zusammen. Sie guckten nicht alle fünf Minuten auf die Uhr. Sie sehnten jeden Sonntag und jede Predigt herbei. Das ist keine Bilderbuchgeschichte. Ich habe dies selber auch erlebt! Und du?